sehepunkte 14 (2014), Nr. 3

Julia Franziska Landau: Wir bauen den großen Kuzbass!

Es gab einmal eine Zeit, in der waren Bergleute noch Helden - Helden, die hart schufteten, um den Treibstoff der aufstrebenden industriellen Welt zu gewinnen. Die gibt es auch heute noch, aber von den Heldinnen und Helden des digitalen Zeitalters, den Frauen und Männern, die unter härtesten Bedingungen Tantal, Zinn oder Wolfram gewinnen, wollen wir als Nutzer von Mobiltelefonen und Tablets es gar nicht so genau wissen.

Genau wissen will es dagegen Julia Landau, derzeit Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 in Buchenwald: in ihrer in Bochum angenommenen Dissertation über die Entwicklung des westsibirischen Kusnezker Beckens (Kuzbass), des größten Kohlereviers der Sowjetunion.

Der Kuzbass mit seinen reichen und hochwertigen Kohlevorkommen wurde zu einem Brennpunkt der stalinistischen Brachialindustrialisierung der Vorkriegszeit. Schon vorher hätte er von einer "Autonomen Industrie-Kolonie" erschlossen werden sollen - einer genossenschaftlichen Organisation unter maßgeblicher Beteiligung ausländischer Fachkräfte. Ziemlich früh entwickelte sich hier eine soziale Spreizung zwischen russischen Arbeitern einerseits und ausländischen Spezialisten andererseits - eine Problematik, die charakteristisch für den Kuzbass werden sollte.

Detailliert schildert Landau die Probleme, die sich ergaben, als der erste Fünfjahrplan (ab 1929) eine umfassende industrielle Entwicklung auch des Kuzbass vorsah. Im Zentrum aller Großprojekte jener Zeit stand das Problem, genügend Arbeitskräfte für die riesigen Vorhaben zu rekrutieren. Der ursprüngliche Plan, Enthusiasten aus verschiedenen Teilen der Sowjetunion zu rekrutieren, konnte schon bald als gescheitert gelten. Hohe Fluktuation und Saisonarbeit machten dem Bergwerkskonzern Kuzbassugol' zu schaffen. Man verlegte sich zunehmend auf Zwangsarbeit. Andererseits privilegierte man weiterhin die ausländischen Spezialisten, die man benötigte, um die importierten Maschinen zu bedienen.

So entstand eine extrem hierarchisierte Gesellschaft vor Ort, was sich in den Arbeitsbedingungen ebenso zeigte wie in der Versorgung mit Lebensmitteln oder mit Wohnraum. Allerdings kehrten viele der Ausländer der Sowjetunion bald enttäuscht den Rücken, weil die Verhältnisse vor Ort die hohen Erwartungen nicht erfüllen konnten.

Landau thematisiert auch den Bedeutungsgewinn der Frauen im sowjetischen Bergbau. Es gab eine zaghafte rhetorische Gleichstellung. Sie wurde allerdings durch die Perpetuierung patriarchaler Verhaltensweisen und Strukturen im Alltag konterkariert.

In einem zentralen Teil ihrer Arbeit widmet sich Landau minutiös der Arbeit unter Tage - vom Arbeitsweg zum Schacht über den Betrieb von Maschinen bis hin zur Beleuchtung. Dabei setzt sie sich dankenswerterweise auch mit den technischen Besonderheiten des Bergbaus auseinander und kann so zeigen, welche spezifische Gestalt bestimmte Verhaltensweisen - Anpassung, Eigensinn, Enthusiasmus - in der Welt unter Tage annahmen.

Ab 1935 begann die Stachanow-Kampagne, die Organisation der Arbeit erheblich zu verändern. Sie orientierte sich vor allem an individuellen Kennziffern der Planerfüllung. Das erhöhte nicht nur den Druck auf die Arbeitskräfte, sondern bot - wiewohl gesamtökonomisch irrational - Einzelnen auch die Möglichkeit des Aufstiegs. Das bisherige hierarchische Gefüge geriet in Bewegung, neue Konfliktlinien entstanden.

Der letzte Teil von Landaus Arbeit geht der Frage nach, wie die vorhandenen Konflikte in den Terror der späten 1930er Jahre mündeten und welche Formen der Terror in dieser besonderen historischen Formation annahm. Das hohe Industrialisierungstempo, die unzureichende Technik und die schlechte Ausbildung der Arbeitskräfte führten notwendig zu Unfällen. Eine Schlagwetterexplosion in Kemerowo bildete dann einen landesweit beachteten Auftakt zu einer Serie von Schauprozessen. Der Terror im Kuzbass traf überwiegend die Extreme der gesellschaftlichen Hierarchie: die einstmals privilegierten Ausländer einerseits, die nun als Spione verdächtigt wurden, und die Zwangsarbeiter andererseits.

Landau beschreibt die Geschichte des Kuzbass als eine Geschichte der Zurichtung und der Disziplinierung der Gesellschaft und analysiert wie diese Disziplinierung vor Ort ankam, das heißt aufgenommen und verändert wurde. Lediglich in ihrem Schlusssatz reißt sie dann noch die Diskussion an, welche Rolle die Entwicklung des Kuzbass für die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Sowjetunion gerade im Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Dazu hätte man gerne mehr erfahren - auch zu der im letzten Satz angerissenen Frage, inwieweit der Sieg über Hitler-Deutschland die Brachialindustrialisierung des Vorkriegsstalinismus nachträglich legitimiert hat.

Julia Landau ist gleichsam ins Bergwerk der Geschichte hinabgestiegen. Sie hat von dort den Brennstoff historischer Erkenntnis ans Tageslicht geholt - die archivalischen Quellen. Leichte Kost ist das nicht, trotz des alltagsorientierten Ansatzes. Landau bleibt stets nahe bei ihren Quellen. Gerade deshalb hätte man sich vielleicht eine ausführlichere Einleitung zur Quellenkritik gewünscht.

Aber diese Quellennähe ist eine große Stärke der Arbeit. Hier wird keine schwebende Theorie beschworen, sondern eine konkrete historische Konstellation ausgelotet. Landau bietet - um in Anlehnung an Fulbert Steffensky zu sprechen - "Schwarzbrot"-Geschichtsschreibung. Nicht leicht zu verdauen. Aber nahrhaft. Und lebenswichtig.

Mit dem "Großen Kuzbass" ist Julia Landau ein neuer, überaus aufschlussreicher Blick auf den Vorkriegsstalinismus gelungen.

Rezension über:

Julia Franziska Landau: Wir bauen den großen Kuzbass! Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921-1941 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 80), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, 382 S., ISBN 978-3-515-10159-2, EUR 57,00

Rezension von:
Johannes Grützmacher
Stuttgart
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Grützmacher: Rezension von: Julia Franziska Landau: Wir bauen den großen Kuzbass! Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921-1941, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/03/23086.html


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