Michael Kubina sucht die - in der Forschung allgemein vertretene - Ansicht zu widerlegen, nach Schließung der innerdeutschen Grenze durch Stalin 1952 habe Ulbricht auch die Grenze in Berlin abriegeln wollen, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Der SED-Chef habe im Gegenteil die offene Grenze lange als Chance betrachtet und an ihr in der Systemauseinandersetzung festgehalten. Auch habe er den Exodus anfänglich deswegen begrüßt, weil dadurch Schwierigkeiten auf der eigenen Seite verringert und im Westen vergrößert worden seien. Erst allmählich habe es auch negative Folgen gegeben, etwa das "ideologische Problem" des Imageschadens aufgrund hoher Flüchtlingszahlen oder die Leistungsausfälle wegen Abwanderung qualifizierten Personals. Die Gegenmaßnahmen Ulbrichts 1958 seien ein Mix aus Kriminalisierung der "Republikflucht" und erschwerter Westreisegenehmigung gewesen. Erst Ende 1960 habe ihn der anschwellende Exodus an die Schließung der Grenze in Berlin denken lassen.
Kubina geht davon aus, dass die Äußerungen der Ost-Berliner Akteure stets die politische Absicht ausdrücken. Die Möglichkeit der Propaganda- und Rechtfertigungsmotivation wird nicht berücksichtigt, obwohl sie in internen Dokumenten oft unverhüllt hervortritt. Auch Rückblicke von SED-Funktionären gelten als Beweis, dass Ulbricht nicht an Grenzschließung gedacht habe. Er erscheint als ideologisch motivierter Täter, der die DDR nicht dadurch desavouieren wollte, aber zuletzt erkennen musste, dass seine Zukunftserwartungen fehlgingen. Daraufhin sei seine offensive Siegesgewissheit in defensive Selbstbehauptung umgeschlagen und habe ihn gegen seine Absicht zum Mauerbau veranlasst. Indem Kubina den SED-Chef für den Mauerbau verantwortlich macht, verleugnet er seine - anderswo im Buch geäußerte - Einsicht, dass dessen Macht eine "Leihgabe Moskaus" war. Nicht Ulbricht, sondern nur der Kremlchef konnte die Grenzsperrung beschließen.
Unstreitig war die Abwanderung für das SED-Regime in den schwierigen Anfangsjahren von Vorteil. Kontrovers ist nur die Frage, ab wann Ulbricht in Berlin das offene Tor zum Westen schließen wollte und ob der Flüchtlingsstrom das bestimmende Motiv war. Kubina hält die auf Moskauer Archivalien gestützte Ansicht, dieser habe das schon 1952 gewollt, als die innerdeutsche Grenze gesperrt wurde, für "Spekulation". Das wäre doch sinnlos gewesen, denn die Fluchtwilligen hätten viele andere Möglichkeiten gehabt. Dabei bleibt vieles außer Betracht. Die direkte Flucht in die Bundesrepublik war auch damals schon nicht risikolos. Fragwürdig ist auch die Annahme, Ulbricht habe kein Interesse an der Beseitigung des - nach Einschätzung des Kremls 1953 die Existenz der DDR bedrohenden - Exodus gehabt, den sein rabiater Sozialisierungs- und Repressionskurs 1952/53 ausgelöst hatte. Der Beschluss im Herbst 1952, eine Kommission zur Untersuchung des Fluchtproblems zu bilden, lässt das Gegenteil vermuten. Wenn Ulbricht nur ausnahmsweise - so nach dem 17. Juni 1953 - auf Grenzschließung drang und ab 1958 die "Republikflucht" mit anderen Maßnahmen bekämpfte, so war das auf die ablehnende Haltung der UdSSR zurückzuführen.
Ulbrichts Erklärungen, man müsse "Diversion" und "Sabotage" aus dem Westen stoppen und den Warenverkehr kontrollieren, sollten das peinliche Eingeständnis vermeiden, dass ihm große Teile der Bevölkerung davonliefen. Das erschien umso nötiger, als er sowjetischen Vorwürfen ausgesetzt war, seine Erfolge ließen zu wünschen übrig. Es ist kein Zufall, dass die von Kubina benutzten DDR-Quellen - anders als die Evidenz auf sowjetischer Seite - das Fluchtproblem kleinreden. Natürlich war Ulbricht auch wegen westlicher Einflüsse in Sorge, doch heißt das nicht, dass dies sein alleiniges oder auch nur hauptsächliches Motiv gewesen ist. Unverständlich bleibt, wieso die Maßnahmen gegen die "Republikflucht" ab 1958 und das Einvernehmen mit Chruschtschow, den Exodus mittels "Normalisierung der Lage in Berlin" zu beenden, den Beweis liefern sollen, dass Ulbricht bis Ende 1960 wegen der Fluchtbewegung wenig besorgt gewesen sei und einen Schutz der DDR dagegen nicht für nötig gehalten habe. Dagegen spricht nicht zuletzt auch die - aus sowjetischen Dokumenten hervorgehende - Tatsache, dass er Chruschtschow seit 1959 immer wieder drängte, dem angedrohten Abschluss des Friedensvertrags und der damit verbundenen Konsequenz der "Freien Stadt" West-Berlin (mit faktischer Abhängigkeit von der DDR und der Kontrolle über ihre Zugangswege) die Tat folgen zu lassen.
Es gibt manche falsche Angaben. Anders als Kubina behauptet, hatte Stalin dem Beschluss der 2. SED-Parteikonferenz über den "Aufbau der Grundlagen des Sozialismus" zugestimmt, wie von Wilfriede Otto edierte Dokumente belegen. Die UdSSR vertrat nicht erst 1955 auf den Genfer Konferenzen, sondern schon seit Juni 1948 den Standpunkt, die Einheit Deutschlands müsse durch Vereinbarung mit dem SED-Regime zustande kommen, bedürfe also der Billigung Ost-Berlins. Die Datierung der überraschenden Aussage Chruschtschows über die Notwendigkeit, mit der offenen Grenze der DDR Schluss zu machen, auf Sommer 1958 lässt sich nicht durch vage Annahmen oder Mutmaßungen in Zweifel ziehen. Die Quelle nennt das Jahr 1958 und nimmt auf den kurz zuvor veranstalteten V. SED-Parteitag Bezug. Das Gespräch konnte wegen sonst fehlender Gelegenheit nur in den sechs Wochen stattfinden, die Ulbricht ab Anfang August als Gast Chruschtschows in der UdSSR verbrachte. Zudem leitete ein Beschluss der sowjetischen Führung am 15. August die zum Berlin-Ultimatum führende Entwicklung ein, und von da an veranlasste der Kremlchef konkrete Vorbereitungen.
Nachweislich unzutreffend ist die Annahme, Chruschtschow habe im März 1961 Ulbrichts Absicht zugestimmt, die Sektorengrenze zu schließen. Dazu entschloss er sich aus eigenem Antrieb nach dem 20. Juli, als er einem Bericht des KGB-Vorsitzenden entnahm, dass die Existenz der DDR durch die Massenflucht akut bedroht wurde. Er hielt dabei am bisherigen Vorgehen fest und betrachtete die Sperrung der Sektorengrenze als Notmaßnahme, die er am Jahresende bei Abschluss des Friedensvertrags aufheben wollte. Dazu kam es nicht, weil ihm die Amerikaner im Herbst klar machten, dass er aufgrund des nuklearstrategischen Kräfteverhältnisses allen Grund hatte, eine Konfrontation zu vermeiden. Wenn ein Krieg ausbräche, würde die UdSSR zerschlagen werden, während die USA kaum mit Zerstörungen zu rechnen hätten.
Der gescheiterte Versuch, die schon in den 1950er Jahren beginnende Sorge Ulbrichts über das Ausbluten der DDR in Abrede zu stellen, sollte den positiven Ertrag der umfänglichen Durchsicht der einschlägigen DDR-Dokumente nicht schmälern: Kubina hat viele neue Details zutage gefördert, eine differenziertere Sicht des Verlaufs der Abwanderung herbeigeführt und den Blick dafür geschärft, dass oft weniger das Ausmaß als die Zusammensetzung des Flüchtlingsstroms das Problem gewesen ist. Wer an diesen Aspekten interessiert ist und die anderen Vorgänge hinreichend zu beurteilen vermag, um sie beurteilen zu können, wird das Buch mit großem Gewinn lesen.
Michael Kubina: Ulbrichts Scheitern. Warum der SED-Chef nicht die Absicht hatte, eine "Mauer" zu errichten, sie aber dennoch bauen ließ (= Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht), Berlin: Ch. Links Verlag 2013, 520 S., ISBN 978-3-86153-746-5, EUR 49,90
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