sehepunkte 14 (2014), Nr. 4

Rezension: Sammelrezension: Sinnesgeschichte der Religiosität in der Frühen Neuzeit

Sinnesgeschichtliche Fragestellungen sind inzwischen in etablierte Zweige der Frühneuzeitforschung vorgedrungen. So verdeutlichen die beiden hier zu besprechenden Bücher, eine Monografie und ein Sammelband, wie eine verstärkte Berücksichtigung sinnlicher Wahrnehmung neue Interpretationen der Reformation und katholischen Reform ermöglicht. Vor allem vermag die Sinnesgeschichte zu erklären, auf welcher Basis religiösen Praktiken in der Frühen Neuzeit von den Zeitgenossen Wirksamkeit zu- bzw. abgesprochen wurde.

Matthew Milner versteht seine Monografie ausdrücklich als Beitrag zur Reformationsgeschichte. Er positioniert sich in der Forschungslandschaft u.a. mit Bezug auf die Arbeiten von Keith Thomas, Eamon Duffy und Alexandra Walsham: Wie diese hebt er über die reformatorischen Umbrüche hinweg reichende Entwicklungslinien hervor und vertritt das Modell einer auch in sensorieller Hinsicht 'langen' Reformation. Hatten in der bisherigen Forschung zur englischen Reformation die sozialen und kulturellen Aspekte des Wandels religiöser Praktiken im Vordergrund gestanden, so lenkt Milner den Blick auf deren phänomenologische Grundlagen: Um zu verstehen, was religiöse Praktiken dem zeitgenössischen Verständnis nach im Menschen bewirken sollten, sei es nötig, die Zusammenhänge zwischen Affekt, Physiologie, sinnlicher Wahrnehmung und Moral zu ergründen. Wichtige Anregungen hierzu verdankt der Verfasser neben Robert W. Scribner und Susan Karant-Nunn vor allem Stuart Clark. [1] Im Vergleich zu Clark lässt sich Milners eigener sinnesgeschichtlicher Zugriff umreißen: Während Clark sich vornehmlich auf den Sehsinn konzentriert und den fundamentalen Wandel seiner Bedeutung und Bewertung in den verschiedenen Zweigen des frühneuzeitlichen Denkens bis zum Ende des 17. Jahrhunderts rekonstruiert hat, berücksichtigt Milner alle fünf menschlichen Sinne, setzt aber bewusst den Schlusspunkt seiner Betrachtung bereits am Beginn des 17. Jahrhunderts. Er wählt damit als Beobachtungszeitraum die longue durée der Geltungsdauer aristotelischer Sinnestheorie seit dem hohen Mittelalter und klammert den ab ca. 1600 durch Kepler und Descartes maßgeblich beeinflussten Wandel aus. Wie Clark argumentiert auch Milner, dass die Reformation nicht mit einem Wandel der Vorstellungen von der Funktionsweise menschlicher Sinne einherging, sondern der Verlauf und die Ausprägung der Reformation selbst zutiefst von traditionellen sensoriellen Prämissen beeinflusst gewesen seien. [2]

Entsprechend dieser sinnesgeschichtlichen Epocheneinteilung ist Milners Buch keineswegs - anders als der Titel zunächst erwarten lässt - auf die Reformation beschränkt: Vielmehr ist es in zwei gleich gewichtige, jeweils vier Kapitel umfassende Teile gegliedert, von denen der erste der spätmittelalterlichen Religiosität gewidmet ist, während der zweite die Entwicklungen ab 1529/30, dem Beginn der englischen Reformation, bis zum Ende des 16. Jahrhunderts nachverfolgt. Dieser im deutschsprachigen Raum eher seltene, die Epochengrenze um 1500 überschreitende Zuschnitt, mit dem Milner klar dem Vorbild Eamon Duffys folgt, ist eine Stärke des Buches, denn so ist es dem Verfasser möglich, die Reformation als Epochengrenze für die Geschichte sinnlicher Wahrnehmung zu hinterfragen. [3] Beide Teile des Buches beginnen mit je einem geistesgeschichtlich angelegten Kapitel über Theorien der Funktionsweise sinnlicher Wahrnehmung: Kapitel 1 erläutert sehr umfassend die seit der Scholastik maßgebliche aristotelische Theorie der Vermittlung von Sinneseindrücken durch sogenannte 'species', d.h. Abbilder des wahrgenommenen Objektes, die über die äußeren Sinnesorgane in den menschlichen Körper eindringen und dann über mehrere Instanzen zunehmend abstrahierend verarbeitet werden. Kapitel 5 legt dar, dass diese Theorie bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts zwar nur geringfügige Veränderungen erfuhr, sich aber unter dem Einfluss des Humanismus in der reformierten Theologie ein radikaler Empirismus entwickelt habe, der alle Aspekte der überkommenen Liturgie einer Überprüfung durch die Sinne unterwarf und sich in einem grundsätzlich anderen Sakramentsverständnis äußerte (197).

Auf diese sinnestheoretischen Kapitel folgen dann jeweils Kapitel über Funktionen sinnlicher Wahrnehmung in der Liturgie vor bzw. nach 1530. Während der erste Teil (Kapitel 1 bis 4) analytisch von allgemeinen Sinnestheorien über deren theologische Einbettung zu liturgischen Rahmenbedingungen und schließlich Praktiken fortschreitet, ist der zweite Teil eher chronologisch gegliedert und folgt der etablierten Einteilung entsprechend der Regierungszeiten der Tudor-Herrscher, wobei allerdings Maria Tudor so gut wie unter den Tisch fällt. Dies ist aus sinnesgeschichtlicher Sicht bedauerlich, ließe sich doch gerade hier beobachten, wie einmal in Gang gesetzte Veränderungsprozesse in den religiösen Wahrnehmungspraktiken eine einfache Wiederherstellung vorreformatorischer Frömmigkeitsformen vereitelten, wie Milner selbst andeutet (285).

Dass Milner sich bei seiner Untersuchung auf die Liturgie beschränkt (9f., 126) und somit andere, nicht gemeinschaftliche, etwa häusliche Frömmigkeit ausklammert, ist bereits von einer Rezensentin kritisiert worden. [4] Problematischer erscheint mir jedoch die Vorgehensweise Milners, stets mit der Darstellung vorherrschender Sinnestheorien zu beginnen und dann in einem zweiten Schritt gleichsam zu den zeitgenössischen Praktiken hinabzusteigen, zu denen erstere in Form liturgischer Handreichungen und volkssprachlicher Erbauungsschriften herabgesickert seien (59-63). Der Verfasser versteht seine sinnestheoretischen Kapitel ausdrücklich als "theoretical lens through which the other chapters on religious practices must be seen" (11). Ein solcher Ansatz steht der Berücksichtigung wechselseitiger Beeinflussung von Theorie und liturgischer Praxis im Weg und riskiert, erstere in ihrer Bedeutung überzubewerten (vgl. dazu Christine Göttler, s.u.). Auch verrät der Blick in die Bibliografie den eindeutig geistesgeschichtlichen Zugriff Milners, denn seine eigene Quellenarbeit beschränkt sich auf handschriftliche und gedruckte theologische und liturgische Texte, während er für die Darstellung vor- und nachreformatorischer Frömmigkeitspraktiken auf die Ergebnisse u.a. der Parish Studies angewiesen ist (10, 93).

Ungeachtet dieser methodischen und inhaltlichen Einschränkungen ist Milners Gesamtdarstellung der Entwicklung sinnlicher Wahrnehmung im religiösen Kontext im England des 15. und 16. Jahrhunderts gelungen. Dies ist umso mehr hervorzuheben, als eine solche weder rein geistesgeschichtlich (wie bei Clark) angelegte noch thematisch lokal-mikrohistorisch (wie viele sinnesgeschichtliche Untersuchungen zur Frühen Neuzeit) verengte Perspektive bislang ihresgleichen sucht. Der Verfasser kann überzeugend darlegen, dass die Grundlagen sensorieller Ethik ("sensory ethics", 186) bis zum Ende des 16. Jahrhunderts stabil blieben: Sinnlich wahrnehmbare Objekte verfügen über 'agency', die bis in die Seele des Menschen hinein wirkt; daher bedarf es der bewussten Kontrolle sowohl der Sinne als auch der sinnlich wahrnehmbaren Umwelt durch den Einzelnen. Damit lassen sich zahlreiche Phänomene der englischen Reformation wie etwa die Ikonoklasmen der Jahrhundertmitte, die Einschätzung des Schriftwortes als "relic that remaineth" (Thomas Cranmer, 265) sowie die erbitterten Auseinandersetzungen um Priestergewänder und das Book of Common Prayer unter Elisabeth erklären. Wenn sich um die Jahrhundertmitte Konservative wie Reformer gegenseitig der "Sinnlichkeit" ("sensuality", 193) bezichtigten, so belegt dies, dass beide Seiten von denselben sensorischen Prämissen aus argumentierten, egal ob nun Häresie oder das Messopfer als Missbrauch bzw. Betrug der Sinne deklariert wurde. Reformations- und sinnesgeschichtlich besonders bemerkenswert an Milners Darstellung ist dann aber schließlich, dass ausgerechnet die Puritaner des letzten Jahrhundertdrittels ein traditionelles Verständnis der 'agency' sinnlich wahrnehmbarer Objekte offenbaren, während die staatskirchliche Seite mit ihrer Vorstellung der heilsmäßigen Indifferenz von Adiaphora wie etwa Priestergewändern einen "third ethical space" für religiöse Sinneswahrnehmung geschaffen habe (205). Damit wird das etablierte Interpretationsmuster (nicht nur) der englischen Reformation als einer Abwendung von traditionellen, multisensoriell erfahrbaren Frömmigkeitspraktiken hin zu einer sensoriell asketischen, verinnerlichten Frömmigkeit gewissermaßen auf den Kopf gestellt. [5]

Milner vertritt die zentrale These seiner Monografie auch in seinem Beitrag zu dem von Wietse de Boer und Christine Göttler herausgegebenen Sammelband, der die Ergebnisse mehrerer Tagungssektionen zum Thema des Verhältnisses zwischen Religion und Sinneswahrnehmung in der Vormoderne in insgesamt siebzehn Aufsätzen, zumeist Fallstudien, versammelt. Sie decken die Zeit vom frühen 15. bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts etwa gleichmäßig ab. Das Buch macht der interdisziplinär ausgerichteten Reihe alle Ehre, denn es sind darin Beiträge aus Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft vertreten. Wie in Milners Monografie werden auch in diesem Sammelband alle fünf Sinne berücksichtigt, wobei der Zugriff der einzelnen Aufsätze von einer Konzentration auf einen einzelnen Sinn bis hin zur Analyse multisensorieller Wahrnehmung reicht. Damit kommt auch die Intersensorialität in den Blick, die Mark M. Smith als ein zentrales Desiderat der Sinnesgeschichte bezeichnet hat. [6]

Gegliedert ist der Band in sechs Teile, von denen die ersten beiden die Bandbreite vormoderner Vorstellungen von den Sinnen als "pathways to the divine" präsentieren, wobei allerdings allein drei von sechs Aufsätzen auf den Sehsinn fokussiert sind: Alfred Acres bietet eine Neuinterpretation von Parmigianinos Madonna mit dem langen Hals, in der er aufzeigt, wie der Künstler die Grenze zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit erprobt. Andrew Casper vergleicht die bildlichen Darstellungen des Schweißtuchs der Veronika und des Turiner Grabtuches in unterschiedlichen Medien und interpretiert sie vor dem Hintergrund der aristotelischen Wahrnehmungslehre in ihrem speziellen Charakter als Abbildungen von "selbst generierten Kopien" (55) Christi. Walter Melion bietet eine Analyse der Kupferstiche zur Ignatiusbiografie Petrus Ribadeneyras, die die Visionen des Ordensgründers als Vorbild für jesuitische Frömmigkeitspraktiken visualisieren.

Unter der Rubrik der niederen Sinne werden dann im zweiten Teil sowohl bildliche Noli me tangere-Darstellungen in ihren multisensoriellen Implikationen (Barbara Baert) und die im Italien des 16. Jahrhunderts geruchlich, haptisch und visuell wahrgenommenen Rosenkranzperlenketten aus Bernstein (Rachel King) als auch die Bedeutung des "open ear" für die Predigt im postreformatorischen England verhandelt (Jennifer Rae McDermott). Die Einordnung des letzten Beitrags erstaunt, galt doch in der Frühen Neuzeit das Hören keineswegs als niederer Sinn, sondern wurde vielmehr gemeinsam mit dem Sehen zu den höheren Sinnen gezählt. Der Aufsatz von Rachel King ist im Rahmen der doch etwas bild- und sehlastigen ersten beiden Teile in seiner konsequenten Analyse der Materialität des Bernsteins und seiner komplexen sinnlichen Erfahrbarkeit und Bedeutung in religiösen und hausmedizinischen Praktiken im gegenreformatorischen Italien eine willkommene und sinnesgeschichtlich sehr aufschlussreiche Abwechslung.

Teil 3 beleuchtet das Verhältnis zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Affekten, wobei erneut zwei Aufsätze zu Bildwerken - Rogier van der Weydens Kreuzabnahme (Jennifer R. Hammerschmidt) und Anthonis van Dycks Beweinung (Sarah Joan Moran) - dominieren, ergänzt um einen Aufsatz von Joseph Imorde über die große Bedeutung des inneren Geschmackssinnes und der als süß empfundenen Tränen für die katholische Frömmigkeit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Im vierten Teil, der drei exemplarischen Kontroversen um sinnliche Wahrnehmung gewidmet ist, sind neben Milners Beitrag je ein literaturwissenschaftlicher und ein musikwissenschaftlicher Aufsatz vertreten. Laura Giannetti erläutert die Debatte zur Bewertung des Geschmackssinnes zwischen Gesundheit, Genuss und Moral in Italien im 16. Jahrhundert, die sie als Etappe in Richtung einer langfristigen Aufwertung dieses Sinnes wertet. Klaus Pietschmann analysiert, wie liturgische Vokalpolyfonie im Florenz des ausgehenden 15. Jahrhunderts zum politischen Spielball wurde: Savonarola verwarf die Anschauung, solche Musik könne die himmlischen Chöre repräsentieren, da sie durch die Musikpatronage der Medici gezielt politisch instrumentalisiert worden war.

Dem Einfluss politischer Interessen auf die sinnlich wahrnehmbare Umwelt spüren auch zwei Beiträge des fünften Teils nach. Iain Fenlon, wie Pietschmann Musikwissenschaftler, interpretiert die Piazza San Marco in Venedig als Theater der Sinne. Die maßgeblich von Sansovino geplante Vereinheitlichung der Platzfassaden diente als Kulisse für sorgfältig komponierte Prozessionen, doch offenbart die Auswertung von Reiseberichten, Verordnungen und Prozessakten nicht nur die polyglotte Vielstimmigkeit dieses Platzes, sondern auch regelmäßige Störungen seiner sensoriellen Ordnung durch Lebensmittelhändler und andere Gewerbe, die auch aus finanziellen Gründen nicht von dieser Bühne vertrieben werden konnten. Wietse de Boer bettet die Predigten eines Theatinermönches in Neapel zur Mitte des 17. Jahrhunderts über die Wiederherstellung der Sinneswahrnehmung im Paradies in den lokalen politischen und sozialen Kontext ein. Er liest diese Predigten als eine Antwort auf die Masaniellorevolte von 1647: Während der neu eingesetzte Vizekönig ein schlaraffenlandartiges Fest organisierte, das den Armen der Stadt Gaumenfreuden vor Augen führte und bot, appellierten die adelsnahen Theatiner in von ihnen veranstalteten Festprozessionen und besagten Predigten gerade nicht an den Geschmackssinn, sondern vor allem an den Seh-, Hör- und Geruchssinn und versuchten, die Aufmerksamkeit auf verheißene jenseitige Sinnesreize zu lenken, im Verhältnis zu denen irdische Reize nur einen Vorgeschmack bieten konnten. Christine Göttler untersucht am Beispiel des Sacro Monte in Varallo in Piemont die enge Wechselbeziehung zwischen der schrittweisen (Um-) Gestaltung einer Sakrallandschaft und der posttridentinischen Debatte um die Wirkung von materiellen Bildern in der katholischen Frömmigkeit. Sie kann nachweisen, dass Sinneserfahrungen auf dem Sacro Monte diese Debatte beeinflusst haben; ihr Beitrag bezeugt somit, wie wichtig es ist, theologische Sinneslehren nicht nur geistesgeschichtlich zu kontextualisieren. Bedauerlicherweise lässt dieser fünfte Teil des Sammelbandes den naheliegendsten Raum religiöser Sinneserfahrungen außen vor: den Kirchenraum. Dabei wäre gerade die u.a. durch die soziologische Raumtheorie inspirierte, konfessionsübergreifende Forschung zum Kirchenraum sinnesgeschichtlich anschlussfähig gewesen. [7]

Teil 6 enthält zwei Beiträge, die das Verhältnis zwischen Religion und naturphilosophischen Debatten in Bezug auf die Sinne in den Blick nehmen. Hier hätte auch der Aufsatz von Jennifer Rae McDermott (im zweiten Teil) sinnvoll untergebracht werden können, untersucht er doch den Einfluss der Entdeckung der eustachischen Röhre auf den homiletischen Diskurs zur Wirkung der Predigt in England um 1600. In ihrem Beitrag über den hugenottischen Arzt Jacques Grévin analysiert Yvonne Petry, wie die sinnestheoretischen Grundlagen von Hexereivorwürfen bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Frage gestellt wurden - zeitgleich mit der Zunahme der Hexenprozesse. Der letzte Aufsatz des Sammelbandes von Sven Dupré ergründet, auf welcher Grundlage nach der Infragestellung der aristotelischen Sinnestheorie durch Keplers Optik (1604) die Entfaltung der von den Jesuiten propagierten bild- und sinnesbasierten Frömmigkeit überhaupt noch möglich war: Er zeigt, wie zwei jesuitische Mathematiker, Franciscus Aguilonius und Christoph Scheiner, Keplers neue optische Theorie auf der Basis des durch die Hornhaut auf die Retina projizierten, umgekehrten Bildes zwar rezipierten, sie aber dennoch an der Existenz der 'species' als Vermittler von Sinneseindrücken festhielten, da sie die Grundlage für die Effektivität bildbasierter Frömmigkeitspraktiken darstellte. Mit Duprés Beitrag kommen somit am Schluss des Bandes Fragen in den Blick, die Milners Monografie offen lässt, die ja genau vor Kepler aufhört: Inwiefern wurde die sinnesbasierte Religiosität nach 1600 durch die Umwälzungen in der Theorie sinnlicher Wahrnehmung berührt? Und was sagt dies über die kulturgeschichtliche Bedeutung letzterer aus? Daraus resultieren dann auch methodische Fragen wie etwa, ob nicht Sinnesgeschichte noch viel stärker praxeologisch gedacht werden müsste als bislang geschehen.

Eindeutig eine Stärke des von Göttler und de Boer edierten Sammelbandes ist es, die Bandbreite möglicher Ansätze zu einer Interpretation der Rolle sinnlicher Wahrnehmung im religiösen Leben aufzuzeigen. Doch wäre es nicht - auf der Basis von jeweils mehreren Sektionen auf zwei Großtagungen - von den Herausgebern zu erwarten gewesen, in ihrer Einleitung eine größere These zu wagen, wie es Milner in seiner Monografie für England im 16. Jahrhundert versucht hat? Stattdessen postulieren sie lediglich, dass Sinneswahrnehmung von der frühneuzeitlichen Theologie und Praxis in hohem Maße als "interconnected, or even integrated, set of experiences" (13) galt und dass die durch diese Erfahrungen hervorgebrachten ("gave rise to") tiefgreifenden Konflikte ihre zentrale Bedeutung und ihr Interpretationspotenzial für die religiösen Umwälzungen der Frühen Neuzeit bestätigen - Aussagen, die zwar zu weiteren Forschungen anregen möchten, dafür aber viel zu vage sind. Zweifelsohne demonstrieren die Beiträge das Potenzial der Thematik, in ihrer Zusammensetzung verstärken sie aber ausgerechnet diejenigen etablierten Vorstellungen, gegen die Milner mit seiner Monografie angeschrieben hat: Im eindeutig von vorreformatorischen und katholischen Fallbeispielen dominierten Sammelband sind es - abgesehen von Milners Aufsatz - ausgerechnet zwei Aufsätze über Predigthören im postreformatorischen England und die skeptischen Betrachtungen über Wahrnehmung eines französischen Hugenotten, durch die protestantische Sinneswahrnehmung repräsentiert wird. Damit zementiert der Band (wohl ungewollt) das althergebrachte konfessionelle Vorurteil "sinnlicher" katholischer Frömmigkeit gegenüber protestantischer sensorieller Kargheit. Milner bildet hier mit seinem Beitrag, der betont, dass die Vorwürfe der Häresie und der Bilderverehrung auf denselben sensoriellen Grundannahmen basieren (325), eindeutig die Ausnahme, auch dadurch bedingt, dass er als einziger (!) der Beiträger zwei Konfessionen in den Blick nimmt, statt nur auf eine Seite zu schauen. Angesichts des hohen Grades interkonfessioneller Wahrnehmung und gegenseitiger Abgrenzung in der Frühen Neuzeit besteht hier offensichtlich Forschungsbedarf: Ein sinnesgeschichtlicher Blickwinkel könnte dazu beitragen, die Bedeutung von Konfession bei der Ausprägung sensorieller Habitus in der Frühen Neuzeit zu ergründen.


Anmerkungen:

[1] Stuart Clark: Vanities of the Eye. Vision in Early Modern European Culture, Oxford 2007, v.a. Kap. 5.

[2] Vgl. Clark: Vanities of the Eye, 187-192.

[3] Eamon Duffy: The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England c. 1400-c. 1580, New Haven / London 1992.

[4] Vgl. hierzu die kritische Bemerkung von Susan Royal: Rezension zu Matthew Milner: The Senses and the English Reformation, in: H-Albion, H-Net Reviews, Februar 2013, URL: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=36336.

[5] Vgl. Susan Karant-Nunn: The Reformation of Feeling. Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany, Oxford 2010. In eine ähnliche Richtung wie Milner argumentieren auch Caroline Walker Bynum: Christian Materiality. An Essay on Religion in Late Medieval Europe, New York 2011; sowie Thomas Kaufmann: Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz: Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, hgg. v. Johanna Haberer / Berndt Hamm, Tübingen 2012, 11-44.

[6] Mark M. Smith: Sensing the Past. Seeing, Hearing, Smelling, Tasting, and Touching in History, Berkeley / Los Angeles 2007, 125-128.

[7] Z. B. Will Coster / Andrew Spicer (eds.): Sacred Space in Early Modern Europe, Cambridge 2005; sowie Susanne Rau / Gerd Schwerhoff (Hgg.): Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, München / Hamburg 2008.

Rezension über:

Matthew Milner: The Senses and the English Reformation (= St Andrews Studies in Reformation History), Aldershot: Ashgate 2011, XIV + 407 S., ISBN 978-0-7546-6642-4, GBP 70,00

Wietse de Boer / Christine Göttler (eds.): Religion and the Senses in Early Modern Europe (= Intersections. Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture; Vol. 26), Leiden / Boston: Brill 2013, XXVI + 494 S., 85 s/w-Abb., ISBN 978-90-04-23634-9, EUR 168,00

Rezension von:
Philip Hahn
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Empfohlene Zitierweise:
Philip Hahn: Sammelrezension: Sinnesgeschichte der Religiosität in der Frühen Neuzeit (Rezension), in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/04/23425.html


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