Olaf Hartungs Habilitationsschrift steht fest auf dem Boden gegenwärtig für wichtig erachteter geschichtsdidaktischer Tendenzen: Sie folgt dem Narrativitäts-Paradigma, differenziert es hinsichtlich ihres Untersuchungsgegenstandes gründlich aus und genügt den zunehmend anspruchsvoller werdenden empirischen Ansprüchen der Disziplin. Sie verlässt darüber hinaus aber auch den sicheren Boden geschichtsdidaktischer Begrenzung und berücksichtigt Erkenntnisse und Modelle der neueren Schreib(entwicklungs-)forschung. Der anachronistischen Vorstellung vom vorwiegend mündlichen Geschichtsunterricht, in dem Schreiben höchstens bei Tests und Prüfungen eine Rolle spielt, möchte Hartung bewusst entgegenwirken, indem er es als Ziel seiner Forschungsbemühungen ansieht, "das Schreibhandeln von Schüler/innen und dessen Bedingungen als ein wesentliches Werkzeug des historischen Lernens theoretisch zu fundieren und empirisch zu beschreiben" (14).
Der Theorieteil stellt zu Beginn umfassend dar, inwiefern die Handlung Schreiben in der Geschichtsdidaktik, in den Lehr- und Bildungsplänen sowie der Praxis des Geschichtsunterrichts überhaupt eine Rolle spielt. Dabei wird deutlich, dass die akademische Beschäftigung mit dem Thema mittlerweile durchaus intensiv ist [1], während im konkreten Unterricht Schreiben immer noch vorwiegend reproduktiv eingesetzt zu werden scheint.
Die Kapitel "Sprache, Schrift und Geschichtslernen" (55-79), "Historisches Erzählen und (Inter-)Textualität" (80-116) sowie "Methoden und Ergebnisse der Schreib(entwicklungs-)Forschung" (117-142) bieten jeweils neu ansetzende und fundierte Abhandlungen zu verschiedenen thematischen Inhaltsfeldern und beweisen die Belesenheit des Autors in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten. Bemerkenswert differenziert und für die Reflexion von Unterrichtsgeschehen aufschlussreich sind die Ausführungen dort, wo die Theorie in direkten Bezug zum sprachlichen Handeln der Lernenden gebracht wird. So wird zum Beispiel die Komplexität der Versprachlichung historischer Phänomene in Erzähl- oder Schreibaufgaben von Lehrkräften häufig unterschätzt: Schüler/innen müssen auf diesem Gebiet eine entsprechende Hilfestellung und Schulung erhalten. Nicht zuletzt gehe es um einen Akt der Bewusstseinsbildung, "dass das konzeptionelle Schreiben über Geschichte aktiv gelernt und gelehrt werden muss" (139). Auf einer kognitiven Metaebene sei es im Geschichtsunterricht daher auch nötig, "nicht nur gattungs-, sondern auch textsortensensitiv" vorzugehen (140).
Der empirische Teil der Arbeit will schließlich eruieren, wie Schüler/innen konzeptionelle Schreibaufgaben zu historischen Fragestellungen lösen, welchen Einfluss dabei individuelle Schreibhaltungen, -strategien sowie Aufgabenstellungen und Textsorten haben und inwiefern sich grundsätzlich bei solchem Herangehen epistemische Effekte erzielen ließen. Dazu wurden in einem Dreischritt Schreibhaltungen, Texthandlungen und Schreiberfahrungen von Schüler/innen im Geschichtsunterricht erhoben. Die Probanden der Untersuchung kamen aus acht Lerngruppen an sechs Regelschulen [2].
Im ersten Schritt wurden über eine Befragung der Probanden unter anderem die Einstellungen zur Handlung Schreiben ermittelt und ausgewertet. Da es Hartung ja vor allem um die epistemische Dimension des Schreibens geht, handelt es sich um einen bemerkenswerten Befund, dass den befragten Schüler/innen die potenziell erkenntnisgenerierende Wirkung des Schreibens nicht bewusst zu sein scheint: "Die prinzipielle Möglichkeit, beim Verfassen von Texten auch Neues zu lernen, motiviert die Befragten [...] kaum." (174)
Die im zweiten Unterrichtsschritt folgende qualitative und quantitative Textkorpusanalyse ist methodisch aufwändig und transparent. Die im Unterricht zur Weimarer Republik in den acht Lerngruppen erstellten 229 Schülertexte, die das Ergebnis unterschiedlicher Schreibaufgaben darstellen, stehen dabei im Fokus der Analyse. Drei Aufgaben waren innerhalb einer Gruppenarbeitssequenz zu erfüllen, jeweils nachdem umfangreiche Materialien (unterschiedlichste Quellen und Darstellungen) zur Einarbeitung zur Verfügung gestellt worden waren: Zum sogenannten "Ebert-Groener-Pakt" von 1918 sollte eine "fiktive Rede" erstellt werden, die entweder die Perspektive Wilhelm Groeners, Friedrich Eberts oder Karl Liebknechts einnimmt; daneben war eine Erörterung über die Vor- und Nachteile der Weimarer Republik zu verfassen; die dritte Schreibaufgabe bestand in einem Zeitschriftenessay für eine "heutige Kulturzeitschrift" zum kulturellen Leben in der Weimarer Republik. Der gesamte Textkorpus wurde nach semantischen Kriterien in 2081 Segmente zerlegt, in einer Datenbank gespeichert und intensiver Auswertung und Interpretation unterzogen. Hartung erläutert die Ergebnisse überaus kleinschrittig und stellt heraus, wo sich Lerngruppen- und schulartspezifische Differenzen und Besonderheiten zeigen. Dabei sind die Erkenntnisse mitunter anregend, vor allem dort, wo deutlich wird, wie eigenständig manche Schüler/innen Wissen in bestimmte Textformate transformieren können. So wird beispielsweise ein Schüler zitiert, der Friedrich Ebert sagen lässt: "Langfristig wäre es [...] besser gewesen, sich von den alten Eliten zu trennen", Text 108, Seg. 1555 (263). Nicht selten sind die Befunde auch wenig überraschend: "Insgesamt zeigen die Beispiele, dass die Oberstufenschüler/innen die ihnen gestellte Aufgabe sowohl formal als auch inhaltlich recht unterschiedlich lösen." (265) Die Untersuchung der Texte hinsichtlich ihrer Themenstruktur, der thematischen Entfaltung, der textuellen Handlungsstrukturen, der semantischen Verknüpfungen sowie der "Beschreibung des Sinns verknüpfter Aussagen in Relation zu den Ausgangstexten" ist überaus systematisch und wird mit vielen Zitaten und Graphiken veranschaulicht. Dennoch ist in diesem Teil bei aller empirischen Genauigkeit mitunter vor lauter Bäumen (= empirische Details) der Wald (= Fragestellung und Antworten darauf) nicht mehr zu erkennen, zumal ein bündelndes Teilkapitel zum zweiten Untersuchungsschritt, das die Fülle der Einzelergebnisse der Textkorpusanalyse noch einmal ordnen, zusammenfassen und in einen größeren Kontext integrieren würde, leider fehlt. Stattdessen folgt gleich der dritte Untersuchungsschritt, der über die Methode "Gruppeninterview" gewonnene Erfahrungen der Schüler/innen in den Mittelpunkt stellt, denen über umfangreiche Zitate breiter Raum gewährt wird (360-388).
Die abschließende Auswertung fasst die Ergebnisse aller drei Untersuchungsschritte zusammen, setzt sie miteinander in Beziehung und generiert allgemeine Aussagen: "Es konnte gezeigt werden, dass Schüler/innen beider Sekundarbereiche an einem an den Erkenntnissen der Schreibforschung ausgerichteten Geschichtsunterricht selbständig schreibhandelnd historischen Sinn ausbilden können." Hartungs Arbeit ist von außerordentlichem Wert für die Geschichtsdidaktik. Wenn es künftig darum geht, das Schreiben von Schüler/innen im Geschichtsunterricht in den Blick zu nehmen, wird sie stets als Referenz zu dienen haben. Gleichwohl bleiben Fragen offen: Inwieweit bei den Probanden tatsächlich "epistemische Effekte" wirksam wurden und worin diese bestanden, hat die umfangreiche Schrift nur ansatzweise beantworten können. Weitere Forschungen könnten hier ansetzen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. z. B. den Sammelband: Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hgg.): Geschichte und Sprache. Münster 2010.
[2] Ein Gymnasium, ein Oberstufengymnasium, zwei Haupt- und Realschulen sowie eine Integrierte Gesamtschule.
Olaf Hartung: Geschichte Schreiben Lernen. Empirische Erkundungen zum konzeptionellen Schreibhandeln im Geschichtsunterricht (= Geschichtskultur und historisches Lernen; Bd. 9), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 440 S., ISBN 978-3-643-11622-2, EUR 34,90
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