Im Band MuseumX wird der museale Raum im buchstäblichen Sinne neu ausgelotet. In Anknüpfung an die postkoloniale und feministische Kritik sowie die Thesen der New Museology vermessen die Beiträge die räumlichen Dimensionen und ihre Beteiligung an der musealen Bedeutungsproduktion vermeintlich objektiver Wahrheiten sowie hegemonialer Normen und Werte. Erstmalig wird damit der "spatial turn" für die Museumsforschung und die Sammlungs- und Ausstellungspraxis fruchtbar gemacht. Die Raumperspektive liefert eine multidimensionale Analysekategorie, welche die materielle Kultur als soziale Konstruktion und habituelle Praxis zu dechiffrieren vermag. Das Museum besetzt nicht nur ein Gebäude, sondern verweist auf Räume, definiert, begrenzt, teilt ein und ordnet an. So richtet sich der vornehmlich ethnologische Blick der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf das Museum als maßnehmende und maßgebende Institution. In dieser vermeintlich stabilen (An)Ordnung des Museums werden Lücken, Widerstände, Fragmentarisches und Offenes markiert. Die Beiträge des Bandes bilden nun selbst den Grundriss eines fiktiven Museums ab: sie verorten sich in den Räumen Garten, Foyer, Museumsshop und -café, Treppe, Ausstellungssaal, Gästebuch, Depot und Labor.
Im Labor entwirft Antony Shelton seine Utopie des Museums als Multiplex Babel. In Referenz zur biblischen Erzählung des Turmbaus zu Babylon ist es als großes Spektakel angelegt, das mit seiner architektonischen Transparenz Autoritäten und Hierarchien auflösen sowie multilinguale und labyrinthartige Mehrdeutigkeiten evozieren will. Das Multiplex triumphiert im Spektakulären, doch ist der Begriff des Spektakels spätestens seit dem Situationisten Guy Debord als "eigenständige gesellschaftliche Macht" [1] in Affinität zur kapitalistischen Warenförmigkeit entlarvt worden. Zudem bleibt das ideale Museum Sheltons im biblischen Gründungsmythos des westlichen Abendlandes stecken. Einerseits liegt die Utopie des perfekten Museums in der Vorstellung, nichts weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit enzyklopädieren zu können. Andererseits ist dem philosophischen Entwurf eine selbstreflexive Kritik bereits eingeschrieben: in Form von Leerstellen, Paradoxien, Fiktionen und Kontingenzen.
Zahlreiche Beiträge des Bandes widmen sich der Dekonstruktion und Problematisierung eurozentristischer Züge der räumlichen Praktiken im Museum. So hinterfragt Friedrich von Bose die taxonomische Anordnung des Museums anhand der Planungen des Humboldt-Forums, in das die außereuropäischen Sammlungen des Ethnologischen Museums einziehen werden. Zum einen werden hier - so der Autor - die problematischen, geografischen Klassifikationen und Grenzziehungen reproduziert, indem die Kultur des Abendlandes um zusätzliche Sichtweisen ergänzt werden soll (156). Zum zweiten bleibt die als Schaumagazin geplante Repräsentation der hierarchischen Trennung zwischen Depot und Ausstellung verhaftet. Weitere Aufsätze zeigen ebenso, wie traditionelle museale Blickkonventionen und (post)koloniale Machtverhältnisse reproduziert werden. Lisa Knüpfer untersucht etwa die konflikthaften Aushandlungen in einem Ausstellungsprojekt am Ethnologischen Museum, das in Kooperation mit dem nigerianisch-deutschen Verein Ikuku Berlin durchgeführt wurde. Die Zusammenarbeit geriet nicht nur an die Grenzen der institutionellen, historisch gewachsenen Museumsordnung. Vielmehr reformulieren ungleiche Beteiligungsstrukturen nunmehr unter dem partizipativen Label von Community-Projekten (neo)koloniale Herrschaftsformen. Dass ein Einschluss von bisher marginalisierten Gruppen nicht automatisch Ungleichheiten auflöst, wird in den Beiträgen von Andrea Meza Torres und Patricia Deuser deutlich. Torres arbeitet am Beispiel der Cité nationale de l'histoire de l'immigration die Überführung kolonialer Machtverhältnisse in den Kontext eines vermeintlichen Multikulturalismus heraus. Die dort angestellten Museumsführerinnen und Museumsführer aus den ehemaligen französischen Kolonien werden als Randfiguren und Grenzgänger zwischen Aufsichts- und Führungspersonal zu lebendigen Bürgen "erfolgreicher" Assimilation und Aufrechterhaltung sozialer Hierarchien. Körperliche Praktiken der Verräumlichung untersucht auch Deuser in ihrem Aufsatz über den Treppenaufgang im Elli Island Immigration Museum. Die heute dort stattfindenden Führungen setzen auf das emotionale Nacherleben der historischen Erfahrungen der Auslese und Markierung des Gesundheitszustandes der zwischen 1892 und 1924 einreisenden Migrantinnen und Migranten. Auf diese Weise treten die rassistischen, eugenischen und nationalistischen Logiken in den Hintergrund und nationalstaatliche Grenzpolitiken werden naturalisiert (68).
Kerstin Poehls spürt den transnationalen Migrationsprozessen in der nordöstlichen Ägäis nach und zeigt auf, wie die ständige Mobilität Grenzen verwischt, auflöst und neu verortet. Dieses Aufbrechen von Raummustern und Herstellen von neuen Raumbezügen steht konträr zu der Logik des klassischen Museums, das Dinge geografisch und zeitlich eingrenzt und ordnet. Auch Franka Schneider problematisiert diese museale Geste vom Arbiträren zum vermeintlich Objektiven. Die in der volkskundlichen Sammlung Adolf Schlabiz zusammengetragenen Objekte werden in eine vergleichende Anordnung regionaler und nationaler Typen überführt, die der verobjektivierten Repräsentation des "Eigenen" dient. Raum wird somit zum musealen Gegenstand, der seine Konstruktion und kulturelle Gestaltung verschweigt.
Die Konzeption des Bandes MuseumX wird dort eingelöst, wo die Beschreibung der räumlichen Praktiken und ritualisierten Handlungsweisen auch auf das Museum als Teil einer Kulturindustrie abzielt. So untersucht Victoria Bishop Kendzia die Rolle von kulturellem Kapital für die Aushandlungsprozesse im Holocaust Tower des Jüdischen Museums Berlin. Während der Turm ganz ohne Exponate auskommt, wird der Raum selbst zum Objekt. Seine Deutungsmöglichkeiten sowie Ein- und Ausschlüsse sind dabei maßgeblich von den Interaktionen zwischen Aufsichtspersonal und Besuchern sowie ihren gesellschaftlichen Vorannahmen geprägt. Versteckten Ökonomien widmen sich auch der Film über Museumsaufseherinnen und Museumsaufseher Stehen zur Kunst von Lysette Laffin und der Text von Jennie Morgan über Putzkräfte am Kelvingrove Art Gallery and Museum. Sie zeigen, wie das Museum von jeglicher Form reproduktiver Arbeit gereinigt wird. Ebenso holt Sharon Macdonald den Museumsshop aus der unsichtbaren Ökonomie des Museums und beschreibt detailliert, warum der Shop kein Surplus, sondern unbedingter Bestandteil der musealen "object-identity work" (53) ist.
Die Beiträge des Bandes widmen sich Zwischenräumen, marginalisierten Orten und sozialen Raumpraxen, die als wirkmächtige, museumskonstituierende Praktiken mit ihren ein- und ausschließenden Mechanismen gelesen werden. Der Abschied vom festen, statischen und objektiv gegebenen Raum ließe sich dabei gleichermaßen auf das Museumsexponat, Ausstellungsgeschichten und museale Selbstverständnis übertragen. Dass diese Perspektive noch längst nicht in der Museumspraxis angekommen ist, zeigt die Diskussion im Museumscafé. Der Fokus auf die räumliche Dimension bleibt hier vollkommen außen vor. Nichtsdestotrotz disputieren die Herausgeberinnen und Herausgeber mit Museumsmacherinnen und Museumsmachern über den Umgang mit Ein- und Ausschlüssen der Bildungsinstitution, über das Aufbrechen objektiver Geschichtsbilder, eine Ästhetik des Fragmentarischen sowie über Möglichkeiten der Mehrdeutigkeit und Transparenz. Wie die Kritik den traditionellen Museumsraum nachhaltig durchqueren kann, wie also im Sinne Sheltons das Museum zum gläsernen Labor werden kann, wird weiter zu diskutieren sein.
Anmerkung:
[1] Biene Baumeister / Zwi Negator: Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung, Volume I: Enchridion, Stuttgart 2007, 41.
Friedrich von Bose / Kerstin Poehls / Franka Schneider u.a. (Hgg.): MuseumX. Zur Neuvermessung eines mehrdimensionalen Raums, Berlin: Panama-Verlag 2012, 186 S., 6 s/w-Abb., mit DVD, ISBN 978-3-938714-24-9, EUR 19,90
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