sehepunkte 14 (2014), Nr. 5

Emmanuel Droit: Vorwärts zum neuen Menschen?

Der Autor hat sich thematisch viel vorgenommen. Allerdings reduziert er die Untersuchung sogleich auf die allgemeinbildende Schule. Seine "Feldforschung" (15) beschränkt er zudem auf Ost-Berlin. Durch diese Konzentration möchte er die "politischen, sozialen und kulturellen Logiken der Funktionsweise der sozialistischen Gesellschaft in der DDR" aufhellen (361). Da ist es wichtig zu wissen, an wen sich das Buch richtet. Es sind jene, die "vor allem eine negative", aber "sicherlich nicht [...] trügerisch[e]" Erinnerung an "eine allgegenwärtige politische Polizei mit ihren unzähligen IM, [...] den Aufstand vom Juni 1953, [...] den Mauerbau 1961, [...] den Zusammenbruch dieser gleichen Mauer im November 1989" (Vorwort, 9) haben.

Mit dem, was Etienne François in seinem Vorwort "Erinnerung" nennt, ist das gängige Vorurteil über die DDR gemeint. An dem wäre indes nicht Erinnerung schuld, sondern die Bildungshistoriografie. Was ihn und mit ihm Droit an dem Ertrag der westdeutschen Schulgeschichtsschreibung stört, sind denn auch nicht bloß "vergessene Aspekte" (Vorwort, 9). Es ist die übersehene "Kluft zwischen den pädagogischen Intentionen [...] und der Alltagsrealität" (13). Daher plädiert Droit dafür, den bevorzugten "Rahmen einer totalitarismustheoretischen Lesart" zu überschreiten, um nicht auch Opfer "jener ideologischen Illusion" zu werden (13). Die vor 1990 im Osten erschienenen Darstellungen seien nicht minder "vom Klima des Kalten Krieges" (16) geprägt. Dass er als Franzose frei von deutsch-deutscher Konkurrenz auf die DDR-Schule blickt, sollte die Angelegenheit erleichtern. Zumindest schürt die nicht alltägliche Perspektive das Leserinteresse. Doch auch diese exklusive Aussicht genügt den Ansprüchen des Autors nicht. Er versucht, "in die Schule einzutreten" und von innen "eine 'dichte Beschreibung' der [...] Beziehungen, Verhaltensweisen, Repräsentationen und [der] Handlungen der Akteure im schulischen Universum" (15) zu leisten.

Der Forschungsertrag seit 1990 half ihm dabei nicht weiter. Schulgeschichte sei auch nach Öffnung der Archive "eine Domäne von Spezialisten geblieben, die meist einer totalitaristischen Sichtweise verpflichtet sind" (17). Überwiegend gehe es bloß um Machtverhältnisse, nur in den"allerseltensten Fällen" um die "Erfahrungen, Wahrnehmungen und Intentionen der Individuen". Lediglich zwei positive Ausnahmen lässt er zu (18). Spätestens hier drängt sich eine schwerwiegende Vermutung auf, die jedoch weiterer Prüfung bedarf.

Anstatt auf die Literatur verlässt sich Droit auf das eigene Quellenstudium. Damit kommt er allerdings auch nicht weit. Im Wesentlichen taugten die Archivalien für die 1950er Jahre. Danach habe die Überlieferung "mit der Realität nicht mehr viel gemein". Die Quellen sind "voll von Worthülsen und Phrasen" (19). Darf man eigentlich nicht erwarten, dass sich ein Historiker auf eine solide Quellenkritik besinnt? Droit geht andere Wege. Er erinnert sich an den "Wert der Fotografie". Doch auch hier schätzt er unübersehbar die Verfahren der Fotoanalyse gering. Bis auf einige willkürliche Aspekte haben Fotografien in seinem Buch lediglich illustrative Bedeutung. Außerdem bezieht er Interviews mit Zeitzeugen ein. Deren Erinnerung akzeptiert er nur dann, wenn sie mit den eigenen Annahmen kompatibel sind. Ansonsten wird über ihren Quellenwert psychologisiert.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste befasst sich mit der "Schule neuen Typs" bis 1959, der zweite mit der "stabilisierte[n] sozialistische[n] Schule bis 1989". Im ersten Teil geht es eingangs um philosophische und strukturelle Grundlagen. Hier wäre der Ort gewesen, den Buchtitel zu erklären. Denn der Terminus "neuer Mensch" spielte in der DDR - mit oder ohne Fragezeichen und anders als beispielsweise in der reformpädagogischen und eugenischen Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Ellen Kay) - so gut wie keine Rolle. Auch bei Droit ist von diesem Begriff nur ein einziges Mal die Rede, in der Variation "neuer sozialistischer Mensch" acht Mal, aber kein einziges Mal in einem Zitat. Das Erziehungsideal in der DDR ließe sich mit Marx hingegen treffend als allseitig bzw. vollseitig entwickelte Persönlichkeit bezeichnen. Bei Unterkapiteln wie dem "Von der Einheitsschule zur polytechnischen Schule" hapert es schlicht an der Logik. War denn die Polytechnische Oberschule keine Einheitsschule? In Droits Erörterungen geht auch im Weiteren einiges durcheinander. So behauptet er: "Der Mensch wird reduziert auf ein 'soziales Wesen', das heißt auf ein Wesen im Dienste der Gesellschaft". Wie kann es dermaßen zur Verwechselung von soziologischem Begriff und Erziehungsziel kommen? Später findet sich viel Richtiges, aber es folgen auch immer wieder Ungereimtheiten und Unverdautes bis Falsches. Das Forschungsfeld erweist sich als viel zu komplex und zu groß. Es lässt sich durch Stichprobengewinnung in Archiven und auf unzureichendem literarischem Grund nicht bearbeiten.

Die Kapitel zu Lehrern, Eltern, der Kinder- und Jugendorganisation, zu Schülern und zum "Kampf der Schule gegen westlichen kulturellen Einfluss" enthalten ebenfalls eine begrifflich überbordende Mischung aus Richtigem und Unrichtigem, Halbwahrem und Halbfalschem. Das Richtige zu ordnen und die eigenen Irrtümer zu begreifen, hätte es wiederum eines gründlichen Literaturstudiums bedurft. Man erkennt nun unschwer, dass selbst die im Anhang verzeichnete Literatur dem Vorurteil zum Opfer fällt und nur partiell zur Kenntnis genommen wurde. Dazu zwei Beispiele. Im Abschnitt "Überwachen um zu erziehen" (Kap. XII) geht es um "die Stasi in der Schule". Etwas übertrieben charakterisiert er das Forschungsfeld als "terra incognita". Es zeigt sich jedoch, dass Droit nicht einmal die wenigen einschlägigen Darstellungen zum Thema kennt. Ersatzweise holt er aus dem Archiv des BStU (nicht einmal selbst, wie man aus der Praxis der Behörde weiß) ausgelaugte Akten ans Licht, die vor Jahren schon veröffentlicht wurden. Oder das Kapitel XI "Die Schule als Kaserne der ostdeutschen Nation". Hatte sich der Autor nicht vorgenommen, Ambition und Erziehungsresultat nicht über einen Kamm zu scheren? Hier hätte er ein vorzügliches Thema für den Nachweis gefunden, dass sich die intendierte Stabilisierung der SED-Herrschaft durch "Militarisierung" gegen die Initiatoren selbst kehrte. Statt der staatsbürgerlichen Disziplinierung wurde durch die verpflichtende Teilnahme am Wehrunterricht die Herausbildung von Protest und Opposition provoziert. Allerdings hätte Droit auch das bereits anhand von Texten aus den 1990er Jahren studieren können.

Dass ausgerechnet in den zweiten Teil des Buches zur "stabilisierte[n] sozialistische[n] Schule bis 1989" auch das Kapitel, "Der Zusammenbruch des ostdeutschen Schulsystems" fällt, ist demgegenüber verzeihlich - zumal die Schule in der DDR trotz des viel beklagten Reformstaus selbstredend nicht an den systemeigenen Gebrechen zugrunde ging, sondern als Bestandteil der gesellschaftlichen Verhältnisse Geschichte wurde.

Wer die eigenen Vorbehalte gegenüber der DDR-Schulgeschichte überwinden möchte, dem sei das Buch ans Herz gelegt. Der bildungsgeschichtliche Sachverstand aber kann sich auf Droit nicht verlassen.

Rezension über:

Emmanuel Droit: Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949-1989) (= Zeithistorische Studien; Bd. 54), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 380 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-22209-3, EUR 49,90

Rezension von:
Ulrich Wiegmann
Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt a.M. / Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Wiegmann: Rezension von: Emmanuel Droit: Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949-1989), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 5 [15.05.2014], URL: https://www.sehepunkte.de/2014/05/24781.html


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