Die 'Legenda Aurea' des Jakobus de Voragine hat, vor allem auch durch die zahlreichen volkssprachlichen Übertragungen, in ganz Lateineuropa Verbreitung gefunden und zugleich wesentlichen Einfluss auf die spätmittelalterlichen Formen laikaler Frömmigkeit gehabt. Anders als dieser mittelalterliche "Bestseller" fand die 'Abbreviatio in gestis et miraculis sanctorum' seines dominikanischen Ordensbruders Jean de Mailly (auch Johannes de Mailliaco oder Giovanni da Mailly genannt) geringere Verbreitung. Der Titel zeigt bereits die Zielrichtung dieses Werkes an, welche Jean im sehr kurzen Incipit noch weiter ausführt: Allen Priestern, die nicht über eine umfangreiche Bibliothek verfügten, werde mit diesem Werk eine Quelle für die Lebensbeschreibungen der wichtigsten Heiligen zur Verfügung gestellt, aus der sie für ihre Predigttätigkeit und somit bei der Unterweisung der Laien schöpfen könnten (3). Er sammelte also die seiner Ansicht nach zentralen Heiligenlegenden und ordnete sie entsprechend dem Kirchenjahr, um so die Predigtvorbereitung zu erleichtern.
Damit war Jean de Mailly einer der ersten Kompilatoren eines Heiligenlegendars, weshalb er in der Forschung "als entscheidender Anreger einer neuen Gattung" [1] gehandelt wird und die 'Abbreviatio' als wichtige Wegmarke dominikanischer Bemühungen um die hagiographische Literatur ebenso wie die Wissensvermittlung betrachtet werden kann. Mit dieser für Studium und Predigt erstellten Sammlung an kurzen Lebensbeschreibungen der wichtigsten Heiligen konnten die Predigerbrüder gezielt auf zentrale Elemente einer christlichen Tradition zurückgreifen und ihre Lehre an "historischen Beispielen" veranschaulichen. Durch diese systematische und zugleich konzise Aufbereitung des Stoffes wurde die 'Abbreviatio' des Jean de Mailly, wie die Forschung mehrfach betont hat, Vorbild, Grundlage und Quelle für die 'Legenda Aurea' ebenso wie das 'Speculum Historiale' des Vinzenz de Beauvais.
Nun liegt erstmals eine kritische Edition dieses zentralen Werkes vor. Der Editor Giovanni Paolo Maggioni ist bereits durch die Edition der 'Legenda Aurea' als Kenner der hagiographischen Legendarliteratur ausgewiesen. Er hat mit dieser Arbeit eine wichtige Grundlage für die Erforschung der legendarischen Wissensproduktion geschaffen. Die Edition der 'Abbreviatio' reiht sich in die Reihe dieser wissenschaftlichen Leistungen ein.
Der Band beginnt mit einer umfangreichen Einleitung. Darin geht Maggioni auf die wenigen Informationen über das Leben des Autors ein, wobei bis heute die Arbeit von Antoine Dondaine von 1946 die wesentlichen Fakten bietet. Anschließend stellt er kurz das Œuvre des Dominikaners vor und charakterisiert das Heiligenlegendar. Dabei zeichnet er den Redaktionsprozess nach, stellt Anlage und Struktur vor und ordnet dies in die Gattungsgeschichte ein. Im zweiten Teil der Einleitung thematisiert er die handschriftliche Basis seiner Edition. Er beschreibt dazu die zahlreichen Textzeugnisse ebenso wie die indirekte Übermittlung, d.h. die zahlreichen und umfangreichen Zitate im 'Speculum Historiale' und in der 'Legenda Aurea', die gleichermaßen zur Verbreitung des Textes beigetragen haben. Im dritten Teil erläutert Maggioni die paläographischen und kodikologischen Grundlagen seiner Arbeit, beschreibt die Abhängigkeiten der einzelnen Handschriften und erläutert die Auswahl seiner Textzeugen, die er zur Edition herangezogen hat. Aufgrund der Vielzahl an Handschriften hat er eine Auswahl getroffen, die er detailliert und überzeugend begründet.
Der eigentliche Editionstext gliedert sich in eine sehr kurze Einleitung und die 177 Einzelkapitel mit den jeweiligen Heiligenlegenden. Diese zumeist sehr kurzen Kapitel sind dabei gründlich aufbereitet und durch den kritischen Apparat lassen sich die Textvarianten ebenso wie Bezüge zur christlichen Tradition nachvollziehen. Maggioni hat seiner Edition der 'Abbreviatio' das 'Supplementum hagiographicum' hinzugefügt. Diese in zwei Handschriften (die Jeans Zeit in Metz ab 1243 und damit der dritten Redaktionsstufe zugeordnet werden) überlieferte Ergänzung erweiterte das Legendar um einzelne Heilige (die vermutlich vor allem in der Region um Metz verehrt wurden) sowie alternative Lebensbeschreibungen bereits im Haupttext behandelter Heiliger. Damit liegt die 'Abbreviatio in gestis et miraculis sanctorum' in einer umfassenden und sorgfältig erarbeiteten Edition vor.
Positiv hervorzuheben sind noch die zahlreichen Hilfsmittel des Bandes, die es ermöglichen, den Text schnell und gezielt zu erschließen. Nicht nur die Personen- und Ortsnamen sind verzeichnet, sondern auch die zahlreichen Quellen, auf die sich Jean in seinem Werk bezog oder die von ihm zitiert wurden. So lassen sich die jeweiligen Heiligenlegenden schnell auffinden und in den Kontext der hagiographischen Literatur einordnen.
Mit diesem Band ist somit ein wichtiges Zeugnis der hagiographischen Literatur des Mittelalters zugänglich, das zugleich Aufschluss darüber geben kann, wie der Dominikanerorden Wissensaneignung und -vermittlung organisierte und die Laienreligiosität formen wollte. Aus diesem Grund kann die editorische Aufbereitung dieses Textes nicht nur zum Verständnis mittelalterlicher Heiligenverehrung und Frömmigkeitspraktiken beitragen, sondern auch neue Impulse für die Erforschung des Predigerordens als Träger und Vermittler von Wissen im Mittelalter geben.
Anmerkung:
[1] Bruno W. Häuptli: Jean de Mailly (Johannes von Mailly, Iohannes de Malliaco oder Mailliaco), in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 23, Nordhausen 2004, Sp. 728-732, Zitat Sp. 728.
Jean de Mailly: Abbreviatio in gestis et miraculis sanctorum. Supplementum hagiographicum. Editio princeps a cura di Giovanni Paolo Maggioni (= Millennio Medievale; 97), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2013, CXCVIII + 593 S., ISBN 978-88-8450-368-8, EUR 120,00
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