Die zeitgenössischen Chronisten beschrieben Richard als schwachen und unglücklich agierenden König, seine Nachfolger instrumentalisierten ihn zur eigenen Legitimation, Shakespeare zeichnete ihn als Tyrann und noch in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeigte sich die Forschung vom Negativbild dieses Herrschers beeinflusst. Wie ist, fragt Inga Menn in ihrer Münsteraner Dissertation von 2011, die Herrschaft Richards II. von England aus heutiger Sicht zu bewerten? Ausgehend von vier Schlüsselereignissen, dem Bauernaufstand (Peasants' Revolt) von 1381, dem sogenannten Merciless Parliament 1388, der Ermordung seines Onkels, Thomas of Woodstock, Herzog von Gloucester, 1397, und der Absetzung Richards 1399 legt die Autorin eine "Rezeptionsgeschichte" des letzten Königs aus dem Hause Anjou-Plantagenet vor und erläutert die Kontroversen um die Person Richards II. nicht nur anhand der historischen Forschung, sondern auch mit Blick auf die ihm gewidmeten historischen Romane (38). Konnte bisher sein Nachfahre Richard III. durch die kritische Aufarbeitung der Quellen und die Bemühungen der aktiven Richard III Society rehabilitiert werden, steht die Regierungszeit Richards II. zum Teil noch immer unter dem Verdikt der Tyrannenherrschaft.
Richard II. war nicht der erste König, der mit dem Hinweis auf seine schlechte Regierung abgesetzt wurde. Bereits Richards Urgroßvater Eduard II. war von den Magnaten im Januar 1327 zur Abdankung zugunsten seines Sohnes gezwungen worden und starb einige Monate später, im September desselben Jahres, in Gefangenschaft auf der Burg Berkeley (Gloucestershire). Weil die erneute Absetzung eines Königs allerdings einer ausgefeilten Begründung bedurfte, stellt Menn im ersten Kapitel Partien der Anklagen vor, welche die Absetzung Richards und - im Vergleich - König Wenzels IV. legitimieren sollten. Zu Beginn des Buches hätte man sich eine Einführung in Akten- und Quellenlage, Methodik und Forschungsstand gewünscht, auch den Hinweis, dass die Autorin keine Archive besucht hat. Die Anklage Richards war der Beginn einer tendenziösen Berichterstattung, die bereits nach seinem Tod einsetzte und sich noch in der in den 1940er Jahren erschienenen Biographie von Anthony Steel nachweisen lässt. In den letzten Jahren konnten insbesondere Nigel Saul und Christopher Fletcher ein differenzierteres Bild des Königs zeichnen.[1]
Die mehrbändige, wesentlich später verfasste Kompilation Raphael Holinsheds, auf die Menn ebenfalls zurückgreift, taugt wohl kaum als Nachweis für die Biographie Eduards II. (7). Michael Evans, The Death of Kings, ist eher Allgemeinliteratur und Michael Hicks' Who is Who ist höchstens als Hilfsmittel zu verstehen, ersetzt aber nicht die Konsultation spezifischer Literatur. Die Auseinandersetzung mit Quellengattungen wie beispielsweise Chroniken oder historischen Romanen hätte differenzierter ausfallen müssen: Wieso zitiert Menn die Äußerungen des Mönchs von Evesham zu Richard nur auf Englisch und entnimmt sie ausgerechnet Alison Weirs romanhafter Biographie zu Richards Tante Katherine Swynford, obwohl die Texteditionen gut zugänglich sind? (8f.) [2]
Die Berater des jungen Königs hatten seit Beginn seiner Regierungszeit 1377 drei Kopfsteuern durch das Parlament absegnen lassen, um die Kriege in Frankreich und Spanien zu finanzieren. Zugleich mehrten sich die Aufstände gegen eine Festlegung der Löhne auf niedrigem Niveau, die 1381 im sogenannten Bauernaufstand kulminierten, die Zerstörung des Londoner Savoy-Palastes des ungeliebten Onkels John of Gaunt und die zeitweise Einnahme des Towers zur Folge hatten. Dass Richard mit vierzehn Jahren zwar kaum ohne eingehende Beratung gehandelt haben wird, trotzdem aber selbständig Befehle erteilt hat, widerspricht der abfälligen Bemerkung des Chronisten Thomas Walsingham über den König als Jungen, wie Menn eingehend diskutiert (61). Weitere Proteste, diesmal der Adligen, und die Konfiszierung der Güter John of Gaunts führen zu der bekannten erzwungenen Abdankung des Königs - Vorgänge, die in der modernen "Populärliteratur" (Campbell Barnes, Rebecca Gablé) und im Theaterstück (Gordon Daviot) weiter ausgeschmückt wurden (113-123).
Am Beispiel von Geoffrey Chaucer, der am Hof Eduards III., John of Gaunts und Richards gleichermaßen geschätzt und gefördert worden war, erläutert Menn anschließend das Mäzenatentum am königlichen Hof. Tatsächlich hatte Richard in den 1390er Jahren den Status seiner Regentschaft auch dadurch in Szene gesetzt, dass er sich anders anreden ließ. Richards übersteigerte, zunehmend religiös verankerte Vorstellung von seiner eigenen Rolle als Gottes Stellvertreter äußert sich in der durch ihn initiierten Kunstproduktion. Wieso die Verfasserin allerdings das Konzept von Kantorowicz in der Zweikörperlehre mit Shakespeares Werken über Richard II. und Heinrich V. in Verbindung bringt, hätte einer Begründung bedurft (216). Beides liest sich hier eher als Nacherzählung denn als wissenschaftliche Abhandlung, zumal die Verfasserin kaum wissenschaftliche Literatur zu Shakespeares Richard II. und Henry V. rezipiert.
Menn zitiert die englische Übersetzung Froissarts über die Beisetzung Eduards III., um beispielhaft die königlichen Begräbniszeremonien vorzustellen (248). Was aber hat das mit Richard zu tun, von dessen Begräbnis wir wenig wissen? Der Passus zu Beginn des königlichen Testaments hätte ebenso einer Diskussion bedurft, entstammt er doch fast wortwörtlich dem Testament seines Großvaters Eduard III., in dem dieser die Wahl der Grabstätte in der königlichen Grablege Westminster bestimmt (23). Dass sich Richards Selbstverständnis an der außergewöhnlich frühen Grabmalsplanung und an der Anlage seines Totengedächtnisses zeigt, hätte Menn zumindest den Transkriptionen von Eva Andrea Wendebourg entnehmen können, die immerhin die Verträge zwischen Richard und den Bildhauern vollständig abgedruckt hat.[3] Auch der wichtige Band zu den Funeral Effigies in Westminster Abbey hätte die Arbeit der Autorin präzisieren können: Nicht verschiedene "Leichenwagen", sondern Katafalke waren in den Kirchen aufgestellt, Gerüste, die eine größere Menge brennender Kerzen um den Sarkophag Annas von Böhmen aufnehmen konnten (25).[4]
Der Autorin ging es weniger um eine "Ehrenrettung" Richards II. als um die literarische Aufarbeitung seiner Person vom Mittelalter bis in die Gegenwart (38). Hierzu hätte es allerdings eines souveräneren, quellenkritischeren Umgangs mit dem Material bedurft. Abgesehen vom unzureichend erfassten Forschungsstand fehlt eine Kennzeichnung von längeren fremdsprachigen Quellenzitaten, deren Wiedergabe in modernem Englisch nicht dem wissenschaftlichen Anspruch genügt. Diese Studie vermag leider wenig zu einer Aufwertung dieser Königsherrschaft beizutragen: Richards heutigem Ansehen hätten eine profundere Kenntnis mittelalterlicher und moderner Autoren, wissenschaftliche Reflektion und präzisere Formulierungen weit mehr geholfen.
Anmerkungen:
[1] Nigel Saul: Richard II, London, New Haven 21999; Christopher Fletcher: Richard II. Manhood, youth, and politics, 1377-99, Oxford 2008.
[2] Historia Vitae et Regni Ricardi Secundi, ed. George B. Stow, Philadelphia 1977; Menn zitiert nach: Alison Weir, Katherine Swynford. The Story of John of Gaunt and his Scandalous Duchess, London 2007.
[3] Eva-Andrea Wendebourg: Westminster Abbey als königliche Grablege zwischen 1250 und 1400, Worms 1986.
[4] Anthony Harvey / Richard Mortimer (eds.): The Funeral Effigies of Westminster Abbey, Woodbridge 22003.
Inga Menn: Richard II. - Der Wolf im Schafspelz oder das Lamm unter Wölfen? Ein Portrait des letzten Plantagenet (= Geschichte; Bd. 99), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2011, 296 S., ISBN 978-3-643-11198-2, EUR 24,90
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