Eigentlich kann es nicht verwundern, dass die Nutzung des Online-Lexikons Wikipedia zu derart kontroversen Diskussionen geführt hat, denn kein anderes Internetangebot hat die Hauptschlagader der Aufklärung so massiv berührt: Diderots Enzyklopädie legte mit ihrer Konzeption die Grundlage für ein neues, komplexes Verständnis von Wissen, auf das alle modernen Lexika zurückgehen. Das gilt nicht zuletzt für den "Großen Brockhaus" - Kondensat und Ausdruck bildungsbürgerlichen Denkens. Bildung in diesem Sinn erhielt die Selbstversicherung und Autorität aus dem gedruckten Wort. [1] Nun hat die Buchreihe den Kampf gegen die Konkurrenz aus dem Netz verloren. Damit wurde die Frage nach der Attraktivität beider Medien von den Nutzern entschieden. Aktualität, Umfang und Zugriffsmöglichkeiten machen Wikipedia zum vielleicht mächtigsten Werkzeug der Wissensverwaltung, das es jemals gab. Abseits voreingenommener Pauschalisierung stellt sich deshalb die Frage, wie man mit diesem Werkzeug umgeht und welche Konsequenzen es für die Entwicklung des historischen Denkens hat.
Es ist das Verdienst Jan Hodels, am Beispiel der Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht einen Teil dieser komplexen und weitreichenden Problematik auf die Agenda der Geschichtsdidaktik gesetzt zu haben. Um die Auswirkungen des digitalen Medienwandels auf das historische Lernen zu erforschen, beschäftigte er sich im Rahmen einer qualitativen Studie mit der Frage der "Bedeutung von digitalen Netzmedien für die Erstellung von Referaten für den Geschichtsunterricht"(127). Die erfassten Daten ergaben, dass es sich bei den herangezogenen digitalen Netzmedien hauptsächlich um die Nutzung von Google und Wikipedia handelt. Für Hodel ist die Frage deshalb von Interesse, weil so ein Teil des Lernprozesses in den Blick gerät, "der sich außerhalb der Unterrichtszeit, aber im Rahmen des schulischen Geschichtsunterricht abspielt" (13). Seine im Jahr 2013 veröffentlichte Dissertation ist somit ein weiterer Beleg für das verstärkte Bedürfnis nach empirisch belastbaren Aussagen in der Geschichtsdidaktik. Außerdem ist die Arbeit ein Hinweis darauf, dass der digitale Wandel künftig ein bestimmendes Thema der Geschichtsdidaktik sein wird.
Die Studie, die an die Prinzipien der Grounded Theory und der qualitativen Inhaltsanalyse angelehnt ist [2], basiert auf drei zeitversetzten Erhebungen vom Herbst 2007 bis zum Frühjahr 2009. Den Ausgangspunkt bildet eine situative Befragung der Probanden. Diese wurden nach dem Teachbackverfahren gebeten, an einem PC zu demonstrieren, was sie tun würden, um eine komplexe historische Fragestellung zu beantworten. Die Anzahl der Probanden lag bei diesem ersten Gespräch bei 41. Die zweite Erhebung war demgegenüber materialgebunden und konzentrierte sich auf die Auswertung von im Unterricht erstellten Wikis zu bestimmten Themen (z.B. Hominisation, Französische Revolution). Insgesamt 135 HTML-Dokumente wurden hier untersucht. Den Abschluss bildete dann wiederum ein Gespräch, bei dem sieben Probanden zu den zuvor erstellten Wikis befragt wurden. Die Probanden stammten insgesamt aus acht Schulklassen der 10. und 12. Jahrgangsstufe (162).
Wie Hodel selbst schreibt, waren die Ergebnisse ernüchternd, da sie seine Vorannahmen nur bestätigten: Die Schülerinnen und Schüler nutzten - bis auf zwei Ausnahmen - keine fachlichen Portale zur Recherche, sondern durchgängig Google und Wikipedia. Das Nutzungsverhalten zeigte nahezu keine Varianz: Geschlecht, Alter, Herkunft und Computeraffinität entschieden nicht darüber, wie die Suchabläufe organisiert wurden. Das erste Fazit lautete dementsprechend, dass die Daten keinen "Anhaltspunkt für eine analytische Erschließung jenseits des Offensichtlichen" boten (171). Dennoch beschreibt der Autor diese Ergebnisse detailliert und versucht auf den folgenden 160 Seiten dem erhobenen Material interpretativ Erkenntnisse abzugewinnen. Durchaus interessant und damit ein zentrales Ergebnis der Arbeit ist die Auswertung des Suchverlaufs. Sichtbar wurde hier, dass keine Triftigkeitsprüfung der Internetseiten anhand von fachwissenschaftlichen Methoden stattfindet. Stattdessen werden sich wiederholende und übereinstimmende Inhalte als wahr und richtig akzeptiert, Widersprüche hingegen ignoriert. Hodel vermutet, dass hier zusätzlich das Vorwissen als Filter funktioniert, der Unbekanntes und Unverständliches ausblendet. Er zieht dann die nachvollziehbare Schlussfolgerung, dass Schülerinnen und Schüler nach einem "positivistischen Konzept der Geschichte agieren, wonach eine richtige Version existiert" (227). Neben diesem Ergebnis erscheint die Auseinandersetzung mit den Werturteilen der Schülerinnen und Schüler in den erstellten Wikis dagegen wenig ergiebig: "Dieser Befund führt zu der Annahme, dass Formulierungen in der ersten Person Singular auf persönliche Einschätzungen und Werturteile hinweisen können" (262).
Auf einer anderen Ebene liegt dann wieder die Auseinandersetzung mit den Links, die bei der Erstellung der Wikis von den Lernenden zu setzen waren. An diesem Beispiel gelingt es Hodel, den von ihm entwickelten Begriff des "Klassennarrativs", in den auch das Referat eingegliedert wird, interessant zu erläutern. Unter diesem Begriff versteht er die Geschichte, die generell und unabhängig von medialen Szenarien im "Verlauf des Unterrichtsgeschehens konstruiert wird" (296). Anhand verschiedener Diagramme wird gezeigt, wie die erstellte Verlinkung in den Wikis aussah und wie ein Klassennarrativ zustande kommt. Auf dieser Grundlage kommt Hodel dann zum Schluss, dass die Verlinkung sowohl für eine "narrative Verdichtung" als auch für eine "narrative Weiterung" sorgt. Insgesamt macht Hodel mit dem "Verkürzen" und "Verknüpfen" zwei Techniken bei der Arbeit mit digitalen Netzmedien aus. Während er unter dem Verkürzen die Erstellung von "in sich geschlossenen, linear angeordneten Darstellungen" versteht, wie sie schon in der Buchkultur praktiziert wurde, beschreibt er mit dem Verknüpfen eine medienspezifische Strategie, mit der die lineare Grundanordnung von Narrationen aufgehoben wird, denn über die Verwendung von Links entsteht ein "Netz[...] narrativer Fragmente", das je nach Erkenntnisinteresse aktiviert werden kann (329).
Sicherlich ließe sich abschließend sagen, dass die Studie mit sieben Probanden bei der letzten Erhebung alles andere als repräsentativ ist. Auch kann man berechtigte Zweifel darüber äußern, ob die Untersuchung von Wikis Aussagen über die Erstellung von Referaten ermöglicht. Und auch das zu Beginn der Arbeit formulierte Erkenntnisinteresse, wonach Referate außerhalb der Unterrichtszeit entstehen, spielt bei der Analyse schließlich keine große Rolle mehr. Aber unabhängig davon und unabhängig von den konkreten Ergebnissen, kann Hodels Arbeit als ein notwendiger Baustein hin zu einer offenen, unvoreigenommenen Auseinandersetzung mit dem digitalen Wandel verstanden werden. Wie er selbst schreibt, werden sich der Geschichtsunterricht und das historisches Denken durch den Einsatz neuer Medien grundlegend verändern. Wenn man davon ausgeht, dass diese Veränderungen gleichzusetzen sind mit den Veränderungen, die durch die Erfindung des Buchdrucks oder durch die Erfindung der Schrift hervorgerufen worden sind, kann die damit verbundene Komplexität nicht in einer einzelnen Arbeit erfasst werden.
Anmerkungen:
[1] M. McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf 1992; N. Postman: Wir amüsieren uns zu Tode, 11. Auflage, Frankfurt/Main 1998.
[2] A. L. Strauss / L. Corbin: Grounded theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996; Ph. Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2008.
Jan Hodel: Verkürzen und Verknüpfen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente (= Geschichtsdidaktik heute), Bern: hep Verlag 2013, 460 S., ISBN 978-3-03905-964-5, EUR 38,00
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