Die Geschichte des britischen Nuklearwaffenarsenals, der britischen Nuklearstrategie und Rüstungskontrollpolitik ist vielfach untersucht worden. Dies betrifft vor allem die formative Phase, als deren Ende man das sogenannte Nassauer Abkommen vom 22. Dezember 1962 zwischen der US-amerikanischen und der britischen Regierung ansehen kann. Hierdurch erfuhr die special relationship beider Staaten im Nuklearbereich eine neue Qualität, auch wenn sie gerade nicht als perpetuiert gelten konnte, wie Gills Studie schildert. Durch die US-Zusage, London Mittelstreckenraketen des Typs POLARIS für britische U-Boote (SSBN) zu verkaufen, konnte das strategische Nuklearpotential Großbritanniens zukunftssicher gemacht werden.
Das Abkommen von Nassau dokumentierte, wie selektiv beide Staaten mit der Frage der Verbreitung von Kernwaffen umgingen. Man war sich einig, dass diese im Blick auf andere Staaten verhindert werden sollte. ''Nicht jede Regierung sei geistig gesund'', meinte US-Außenminister Dean Rusk gegenüber Konrad Adenauer. [1] Die nationale nukleare Souveränität zu sichern und gleichzeitig effektive Nichtverbreitungspolitik zu betreiben, war für Washington wie London stets ein sehr schwieriges Unterfangen.
Die britische Politik unter Premierminister Harold Wilson (1964-1970, Labour) sei bei diesem komplizierten Spiel ausgesprochen erfolgreich gewesen, bilanziert nun Gills Studie, die die Ära Wilson zurecht als ''critical period'' (216) der britischen Nukleargeschichte versteht. Die Arbeit ist in der renommierten Stanford Nuclear Age Series erschienen und gibt mitunter Passagen wider, die bereits in drei Artikeln des Autors präsentiert worden sind. Gill zeigt auf beeindruckende Weise, was eine umsichtige, aktengestützte Historiographie der internationalen Politik leisten kann. Die Studie ist empirisch recht gut fundiert, da der Autor in britischen und amerikanischen Archiven recherchiert hat. Perspektivisch operiert die Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen: internationale Politik, Innenpolitik und Labour-Parteipolitik.
Dadurch werden die Dynamik wie die zeitgenössischen Grenzen, Optionen, Risiken, Kosten und Gewinne der britischen Nuklearpolitik erkennbar. Auf der Ebene der internationalen Politik bezieht sich Gills Studie primär auf das Dreieck USA-Großbritannien-Bundesrepublik Deutschland, ohne deutsche Quellen oder deutschsprachige Historiographie zu rezipieren. Dadurch folgt die Arbeit manchem Bias der zeitgenössischen britischen oder amerikanischen Betrachtungsweise. Hieraus resultiert wohl auch die sicherlich unhaltbare These, die ''enduring absence of a German or European deterrent'' sei auf ''Wilson's handling of nuclear diplomacy'' zurückzuführen (216).
Unübersehbar ist, dass Gill Wilsons Nuklearpolitik wohlwollend gegenübersteht (207/213). Wilson habe Großbritannien auf einen ''new, modern course'' geführt (215). Keine britische Regierung habe an den beiden prioritären Prinzipien britischer Nuklearpolitik etwas geändert, die Wilson unter widrigen Umständen durchgesetzt habe: ''non-proliferation'' und nukleare Souveränität Großbritanniens, definiert als Unabhängigkeit durch Interdependenz mit den USA (219). Wilson sei ein Meister des ''wait and see approach'' gewesen (56), um Optionen und Handlungsspielräume zu wahren (62). "Ambiguity" sei sein Stil gewesen (70). Als Parteichef sei es Wilson gelungen, 1963/1964 den Eindruck zu kultivieren, er vertrete die Parteilinie, die vorsah, das gesamte britische Nuklearpotential abzuschaffen (65) und auch den von der Tory-Regierung eingefädelten Kauf amerikanischer POLARIS zur Disposition zu stellen. Doch Wilson habe sich weder auf das eine, noch auf das andere festgelegt (75). Kaum hatte Labour die Wahlen im Herbst 1964 gewonnen, entschied die neue Regierung, das nationale Kernwaffenpotential beizubehalten und zu modernisieren, indem POLARIS für vier britische U-Boote gekauft werden sollten (74).
Gleichzeitig stand London wegen des westdeutschen Interesses an einer NATO-Atomstreitmacht unter gewaltigem Druck. Diese Streitmacht durfte aber auf keinen Fall etabliert werden, auch weil sie die nukleare Souveränität Großbritanniens gefährden würde. Wilsons Regierung schlug Ende 1964 vor, in der NATO keine Multilateral Force (MLF), sondern eine Atlantic Nuclear Force (ANF) zu etablieren. Wie Gill zu Recht betont, ging es Wilson dabei nicht nur um die NATO und die Bundesrepublik. Vielmehr wollte er diverse Fliegen mit einer Klappe schlagen:
- die britischen Nuklearwaffen modernisieren;
- die Labour-Abrüstungsbefürworter vertrösten, um innenpolitisch zu überleben;
- eine fingierte britische Bereitschaft vorspiegeln, um das genannte deutsche Interesse zu befriedigen;
- dadurch ein Ventil schaffen, um den entsprechenden Druck Bonns und Washingtons auf London zu kanalisieren;
- keine finanziellen Mehrbelastungen eingehen;
- die eigene politische Glaubwürdigkeit wahren.
Die Seriosität des ANF-Vorschlags stand schon zeitgenössisch im Zweifel. Anfang März 1966 hielt US-Außenminister Rusk rückblickend fest: ''The British have been playing a game'' (138). Laut Gill traf Rusk ins Schwarze (76). Die NATO-interne Erörterung des ANF-Vorschlags wurde von Beginn an von britischer Seite verschleppt (105, 125-140, 209), bis London Anfang 1966 erstens den eigenen ANF-Vorschlag sowie zweitens die Gesamtidee, eine NATO-Atomstreitmacht zu bilden, desavouieren konnte, ohne dass die Etablierung einer Streitmacht ohne Großbritannien drohte. Bis dahin war die POLARIS-Modernisierung mit der Ansage vorangetrieben worden, dass diese Mittel in der ANF aufgehen, mithin 'internationalisiert' werden sollten. Durch die Desavouierung des eigenen ANF-Vorschlags ergab sich 1966 als scheinbar unbeabsichtigte Nebenfolge britischer Politik, dass die POLARIS-U-Boote Großbritanniens auch zukünftig die nukleare Abschreckung nach Maßgabe des nationalen britischen Interesses gewährleisten würden. Honi soit qui mal y pense.
''In a curious series of twists and turns'' (140, 211) habe sich Wilsons Regierung bis Anfang 1966 aus dem ANF-Vorschlag mit dem Argument herausgewunden, aus britischem wie aus Menschheitsinteresse müsse einem Atomwaffensperrvertrag Priorität eingeräumt werden. Um diesen mit Moskau überhaupt erreichen zu können, sei Opferbereitschaft in der NATO notwendig. Die Idee einer Kollektivstreitmacht solle aufgegeben werden. Dies entsprach Londons Interesse, zumal eine britische Opferbereitschaft zugunsten einer nuclear sharing-Lösung in der NATO nie bestanden hatte, selbst wenn sie aufgrund von Verlautbarungen formal anzunehmen war (129, 209).
Der Atomwaffensperrvertrag bot London eine ''excuse'' (127), um erstens das deutsche Interesse an einer NATO-Atomstreitmacht zu überfahren, ohne zu diesem Zeitpunkt (1966) noch einen politischen Preis zahlen zu müssen, der über die annehmbare Abfindung der Bundesrepublik mit der Nuclear Planning Group hinausgehen würde (128-139, 159-170). Gills These, dass Bonn sich damit bis Ende 1966 dezidiert zufrieden gegeben habe (163), ist allerdings unzutreffend. Ein Einvernehmen mit der Bundesrepublik hinsichtlich des Kerns des Atomwaffensperrvertrages (Art. I und Art. II) hat es nie gegeben. Zweitens konnte Wilson die britische POLARIS-Streitmacht in sicheres Fahrwasser geleiten, da Großbritannien durch den Atomwaffensperrvertrag als Kernwaffenmacht völkerrechtlich anerkannt wurde (131).
Gills Studie ist ein wichtiger Beitrag zu der noch unzureichend verstandenen Geschichte, wie die im Fluss befindliche nukleare Weltordnung während der 1960er Jahre verfestigt werden konnte. In der packend geschriebenen Arbeit hat der Autor ein Narrativ vorgelegt, das den wissenschaftlichen Standard hinsichtlich Gills Spezialgegenstand neu ausrichtet. Sie bleibt überwiegend analytisch, ist dennoch Wilsons Nuklearpolitik zugewandt und kommt doch nicht aus der Balance. Denn Gill spart unbefangene Thesen nicht aus, die mitunter an Wilhelm G. Grewes Verdikt erinnern, Wilson habe sich in der MLF/ANF-Episode ''immer wieder als der trickreiche, verschlagene Opportunist erwiesen, dem selbst Parteifreunde nicht gerade das Prädikat 'aufrichtig' zuerkennen mochten'' [2]. Gills wissenschaftliche Analyse bestätigt den sachlichen Kern dieser bitteren Polemik: ''On the issue of nuclear sharing, British diplomacy was characterised by ambiguity, duplicity, and prevarication.'' Indes, Gill deutet Wilsons ''pragmatic, albeit disingenuous, approach'' (139) als ''sensible approach'' (138), zu dem es keine bessere Alternative gegeben habe, wenn man die zeitgenössische Definition britischer Interessen als Maßstab zugrunde lege.
Anmerkungen:
[1] Aufz. v. MD Krapf v. 22.6.1962 über das deutsch-amerikanische Regierungsgespräch in Bonn, AAPD 1962, München 2010, Dok. 261, 1153 (http://www.sehepunkte.de/2011/07/19870.html).
[2] Wilhelm G. Grewe: Rückblenden 1976-1951, Frankfurt a.M. u.a. 1979, 622.
David James Gill: Britain and the Bomb. Nuclear Diplomacy, 1964-1970 (= Stanford Nuclear Age Series), Stanford, CA: Stanford University Press 2014, XIII + 304 S., ISBN 978-0-8047-8658-4, USD 65,00
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