Der Briefwechsel des Führers des kirchlichen Pietismus, Philipp Jakob Spener (1635-1705), ist einer der großen und bedeutenden. Mit der Veröffentlichung begann Spener noch selbst und legte vier starke Bände "Theologische Bedecken" in den drei Jahren 1700 bis 1702 vor. Dreißig Jahre alt wird Ende 2014 die rund 25 Jahre als DFG-Projekt laufende, jetzt als Akademie-Vorhaben firmierende "Forschungsstelle Edition Spenerbriefe". Finanziell wie institutionell halfen Universitäten, Franckesche Stiftungen, Gerda Henkel Stiftung und die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. Nun arbeiten fünf Personen (und studentische Hilfskräfte) mit: drei berichteten jüngst zur Ausgabe, außerdem Claudia Drese und Marcus Heydecke. Seit 1996 erschienen acht Bände mit über 6200 Seiten Text von rund 1400 Briefen Speners (mit über 30 Schreiben an ihn und 10 sonstigen Texten) für die Jahre 1666 bis 1681 und 1686 bis 1689, zeitlich ziemlich genau die Hälfte des von 1666 bis 1703/04 zu bearbeitenden Zeitraums. [1].
Der vorzustellende Band für das Jahr 1689 führt mitten in Speners kurzes Dresdner Wirken als Oberhofprediger Mitte 1686 bis Mitte 1691. 140 Schreiben werden geboten, für drei Briefe war das (Halb-)Jahr zu ermitteln. Umfangreicher war die häufig nötige nachträgliche Adressaten-Zuweisung. Spener- wie (lexikalische) Biographien-Forschung (Johannes Moller, Cimbria litterata, 1744) erbrachten hier diverse Ergebnisse. Deren Übernahme könnte vermerkt werden.
Für über zwei Drittel der Briefe wird auf die drei großen Briefsammlungen zurückgegriffen: "Bedencken" (siehe oben) sowie (postum) "Consilia et Iudicia Theologica Latina" 1-3 (1709) und "Letzte Theologische Bedencken" 1-3 (1711) (639 und 661-662 verzeichnet). Deren wiederholt makellos erscheinende Textqualität (siehe zum Beispiel Nummer 56, 58, 59, 65, 76 und 79) bewertet man bei Mehrfachüberlieferung und dem dann nötigen Variantenapparat vorsichtig, es kann aber eine nicht schlechte Textüberlieferung konstatiert werden (siehe zum Beispiel Nummer 30, 46, 57 und 86). Der Band bietet jedoch dann (handschriftlich wie gedruckt) auch 37 nicht den genannten gedruckten Sammlungen entnommene Briefe (siehe 637-639 alle Nachweise der Brieftexte) - offenbar ist der Brief an Benigna von Solms-Laubach (Nummer 129) in dem noch 2009 genannten einschlägigen Archiv-Bestand nicht vorhanden. Die Entscheidungen zur Textkonstituierung verdienen Vertrauen, sind auch überprüfbar (zum Beispiel Nummer 8 und 35). Man versucht, möglichst nah an der Vorlage zu bleiben. [2]
Die Kommentierung der Briefe ist komfortabel. Ein unglaubliches biographisches Material zu den Adressaten kommt hier zusammen. Deren Kurzbiogramme gehen oft auch auf Zeit und Umstände der jeweiligen (brieflichen) Beziehungen zu Spener ein. Für Christine von Stolberg-Gedern (1663-1749) (Nummer 113) unterbleibt ein solcher Hinweis. Über im 18. Jahrhundert - anonym! - veröffentlichte Drucke hinaus schöpfte man im 19. und 20. Jahrhundert noch aus dem Fundus von 15 Schreiben Speners, 1683-1700. [3] Auch zu allen genannten Personen wird nach Möglichkeit eine Kurzvita geboten.
Die Sachkommentierung der Briefe geht in die Tiefe. Fernliegenden Sachverhalten wird hartnäckig nachgespürt und erfolglose Recherche markiert (559 f. Anmerkung 24 und 26). Gelegentlich mag man eine Erläuterung vermissen - wie etwa über die "arrestierten (güter)" des Frankfurter Verlegers Zunner. Vereinzelt wären Nachweise, wie derjenige über Veit Ludwig von Seckendorfs Werk zur Reformationsgeschichte, zu ergänzen. [4] Das trübt jedoch das Gesamtbild eines ruhigen, sachlichen und gehaltvollen Kommentars nicht. Die Rückverweise auf frühere Bände nehmen sehr zu - bis zu vier frühere Bände werden für einen Brief herangezogen (Nummer 13). Speners Bibliotheks-Katalog ebenso wie sein Predigten-Verzeichnis erweisen sich als gute Hilfen. Ebenso bieten für die (spätere) Dresdner Zeit oft herangezogene Briefschaften immer wieder wertvolle aufklärende Belege. Warum aber sollte die Auswertung gerade des Briefwechsels zwischen Spener und seinem Schwiegersohn Adam Rechenberg für die Kommentierung "im kommenden [...] Band [...] nicht mehr im bisherigen Umfang nötig sein"? (V) Erfreulicherweise wird ja die Edition dieses am ausführlichsten erhaltenen Briefwechsels vorbereitet (und lässt Nummer 64, an A. Rechenberg 21.6.1689, in diesem Band an falschem Ort stehen): was spricht gegen seine Verwertung für den Kommentar?
Ein 10seitiges Literaturverzeichnis (XXVII-XXXVI) dokumentiert umfangreiches, immer wieder konsultiertes Schrifttum. Weitere Veröffentlichungen - in manchmal zu hinterfragender Auswahl - sind in den Fußnoten nachgewiesen.
Die allermeisten Adressaten des Jahres 1689 (60 Personen) sind nur mit je einem einzigen Schreiben vertreten. Nur vier Briefpartner haben in diesem Jahr 7 bzw. 5 Briefe von Spener erhalten. Das erschwert die inhaltliche Bündelung des gebotenen Materials. Zusammenhängende Lektüre in Spener-Briefen erfordert Fortsetzungslektüre in diversen Bänden. Der Bearbeiter (früher die Herausgeber) des Bandes vermag freilich als "Einleitung" in fünf Schritten von Themenfeldern bis hin zu Einzelthemen einen Überblick zu entwerfen.
Aufmerksamkeit gebieten im ersten Block die Hinweise auf die dann in Leipzig aufbrechenden pietistischen Bewegungen. Im Zusammenhang des Konfliktes Speners mit Kurfürst Johann Georg III. muss eine neugierige Erwartung enttäuscht werden: der Speners weiteres Verbleiben in Dresden verunmöglichende Beicht- und Seelsorgebrief an den Landesherrn darf (nach gewiss intensiver Suche) als verloren gelten (172 Anm. 28). - Mit Themen wie Konventikel, Heiligung, theologische Ausbildung und Seelsorge werden auch 'klassische' Fragen des Pietismus aufgeworfen. - Ebenso schließen Erörterungen zu Jakob Böhme, Verfolgung evangelischer Kirchen und Fragen zu Unionen an frühere Korrespondenzen an. - Auffallend sind die Bemühungen um die sorbische Bibelübersetzung und die Wahrnehmung von Quietismus. -
Herausragende Korrespondenten wie Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Scriver begegnen, bei letzterem ist Nummer 26 natürlich nur für 1689 "der einzige bekannte Brief Speners" - im Band für 1679-1680 sind vier Stücke vorgelegt. Viele weitere in dem Band verhandelte Gegenstände schreien geradezu nach dem für das Ende der jeweiligen Abteilungen Frankfurter, Dresdner und Berliner Zeit vorgesehenen Sachregister. Es führt zusammen was zusammengehört und fällt hoffentlich nicht der Digitalisierung der Bände zum Opfer. Unersetzbar bleibt ein von kompetenten Kennern professionell erarbeitetes Sachregister.
Errata etc. unter den auf 75 Seiten bemerkten Annotanda sind meist marginal. Einiges wenige mag nicht von selbst zu klären sein: nicht aufgelöste Abkürzungen (DBI, 3; Praes., 164; SA [unschön], 228), fehlende Bearbeiter (Francke, XXIX), fehlende Erscheinungsjahre (49, 389), Namensverschreibung (Stegemann richtig Stegmann, 287), unklare Zeilenangaben (die Druckfassung von Nummer 92 enthält Zeile 114 bis 173, nicht "105-159"). Für einen Band von 698 Seiten besteht hier ist kein Grund zur Klage - was dieser Edition sowieso noch nie zuteilwurde.
Der Band mit Speners Briefen von 1689 fügt sich in erfreulicher Weise dem bisher erschienenen Corpus der Spenerbriefe-Bände ein. In formaler wie auch inhaltlicher Hinsicht liegt ein sehr gut gestalteter und zu nutzender Band vor. Druckbild und Buchgestaltung werden dem Ruf des Hauses Mohr Siebeck gerecht. Es ist noch viel zu tun bis zur vollständigen Präsentation der erhaltenen Spener-Briefe. Abermals 30 Jahre werden dafür nicht vergehen müssen. Dabei bleiben auch drei Aufgaben allem editorischen Tun nicht erspart: die Erschließung der Briefe an Spener, eine Übersetzung der lateinischen Texte und die Sachregister. Das bedeutet für dieses Vorhaben der Sächsischen Akademie der Wissenschaften eine große Herausforderung.
Anmerkungen:
[1] www.edition-spenerbriefe.de/ - Denkströme 9, 2012, 9-43 Udo Sträter, Klaus vom Orde, Claudia Neumann. - Zur Erforschung und Edition der Spener-Korrespondenz wurde in den letzten gut 30 Jahren verschiedentlich gehandelt. Siehe Philip Jakob Spener, Schriften, herausgegeben von Erich Beyreuther, Band XV und XVI jeweils Einleitung, Hildesheim 1987 und 1989. Dietrich Blaufuß: Spener-Arbeiten [...], Bern [u. a.] ²1980, Kapitel II. Ders.: Korrespondierender Pietismus [...], Leipzig 2003, 387-411.
[2] Nummer 35 ist gut kontrollierbar: die Fassung D1 ist im Netz verfügbar, D2 [streiche "hg. ... Steinmetz"] als Reprint in Spener, Schriften (wie Anmerkung [1]), Band VIII, ebd. 2002.
[3] Siehe Dietrich Blaufuß, Pietismus und Adel. Wieder aufgefundene Briefe Philipp Jacob Speners an Christine von Stolberg-Gedern 1683 bis 1700, unter http://www.forschungen-engi.ch/mitarbeiter/pietismus_und_adel.pdf
[4] Ergänze 325 Anmerkung 23 nach Theologische Realenzyklopädie Band 30, Berlin 1999, 725 Zeile 18-20 (-38).
Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdener Zeit. Band 3: 1689. Herausgegeben von Udo Sträter und Johannes Wallmann, in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, XXXVI + 662 S., ISBN 978-3-16-151681-8, EUR 189,00
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