Sechs Autoren zeigen in acht Beiträgen, welch höchst interessante Aspekte sie dem breit gespannten Thema abgewinnen konnten. Sie basieren (bis auf zwei Ausnahmen) auf Vorträgen, die auf einer vom "Münchner Arbeitskreis Katholizismus-/Protestantismusforschung" im Dezember 2011 gehalten wurden (siehe den konzisen wie informationsreichen Bericht von Angela Hermann in: H-Soz-u-Kult 03.03.2012). Das NS-Dokumentationszentrum hatte ursprünglich den Arbeitskreis berufen, um Grundlagenforschung zu betreiben. Kaum zu glauben, dass dies nach über 60 Jahren Forschung für München noch dringend notwendig zu sein schien. Doch die beiden letztplatzierten Beiträge (von Thomas Forstner und Björn Mensing) führen nachvollziehbare Gründe an, weshalb sie zuerst zur Kenntnis genommen werden sollten.
Thomas Forstner stellt in seiner Analyse des katholischen Bestrebens, das Versagen der Kirche im 'Dritten Reich' zu kaschieren, die Frage "zweiter Kirchenkampf oder Stellvertreterdiskurs". Seine auf profunder Sachkenntnis beruhende Kirchenkritik wirkt umso glaubhafter, als er jahrelang im Schoße der Kirche gearbeitet hat, bis 2011 als Projektleiter und Fachreferent im Erzbischöflichen Ordinariat München, und 2013 mit einer Arbeit über den katholischen Pfarrklerus in Oberbayern 1918-1945 promoviert wurde. Laut Forstner habe in der ersten Phase der Uminterpretation von kirchlicher Affinität zum Nationalsozialismus in kirchlichen Widerstand gegen das NS-Regime vor allem Weihbischof Johannes Neuhäusler eine regelrechte "Publikationswut" entfacht. Zeitgleich ließ er ausgewiesenen NS-Verbrechern weitgehende Hilfe angedeihen, vor allem suchte er sie vor Strafverfolgung zu schützen. Für die tatsächlichen Opfer des nationalsozialistischen Terrors hatte er wohl nicht viel übrig. Sein skandalöses Verhalten lässt sich vermutlich erst anhand seines voluminösen Nachlasses im Archiv des Erzbistums München und Freising klären, der allerdings noch bis 2034 gesperrt ist. Auch ohne dessen Kenntnis bilanziert Forstner, Neuhäuslers Wirken habe in den ersten 15 Jahren Nachkriegszeit der katholischen Kirche gewaltig geschadet. Zugespitzt bringt er es auf die griffige Formel: "Neuhäusler (nach 1945) war verhängnisvoller als Faulhaber (vor 1945)" (280).
In der zweiten Phase kam es aufgrund heftiger Kritik, nicht zuletzt mit Rolf Hochhuths Drama "Der Stellvertreter", gar zu einer Intensivierung der publizistischen Produktion, um die katholische Kirche zum absoluten Widerstandshort zu stilisieren. Mit der Gründung der Kommission für Zeitgeschichte 1962 an der Katholischen Akademie in München setzte eine Monumentalisierung katholischer Widerstandsgeschichte (mit inzwischen 170 Bänden) ein. Sie gipfelte 1984 in ihrem 2000 Seiten starken Paradewerk "Priester unter Hitlers Terror"[1], das in mehreren Auflagen erschien. Wegen dessen peinlicher Schwächen und offenkundiger Heroisierungsstrategien, so heißt es, habe selbst so mancher Akteur der Kommission gewünscht, es wäre nie erschienen.
In der dritten Phase, der "Katholisierung von Auschwitz", zeigt der Autor unter anderem am Beispiel der konvertierten Philosophin Edith Stein, wie fraglich deren Inbesitznahme durch die Kirche mittels Heiligsprechung sei, wurde sie doch als Jüdin verfolgt und vergast und nicht als getaufte Christin.
Im Umgang mit der NS-Vergangenheit weise die evangelische Kirche Ähnlichkeiten mit der katholischen Kirche auf, urteilt Björn Mensing, Pfarrer an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau und Historiker, der über die "Verstrickung" von Pfarrern im Nationalsozialismus am Beispiel der evangelischen Kirche in Bayern wissenschaftlich gearbeitet hat. Auch die evangelische Kirche kümmerte sich wenig um echte NS-Opfer, dafür suchte sie politisch Verstrickte zu integrieren. Landesbischof Hans Meiser entwarf das Bild einer widerständigen Landeskirche und ließ sich dies noch im Herbst 1945 durch ein Urteil des Kassationshofes bestätigen. Ehemalige Nazis wurden sehr bald rehabilitiert, aber berechtigte Kritik am Vorgehen Meisers durch Pfarrer, die selbst wegen ihres oppositionellen Verhaltens nationalsozialistische Verfolgungen zu erleiden hatten, wurden marginalisiert. Ihre Forderungen, die Landeskirche möge ihr schuldhaftes Versagen bekennen und einen Neuanfang wagen, wurden überhört. Erst eine neue Generation konnte der apologetischen Geschichtsdeutung schrittweise entgegentreten und unlängst sogar die Umbenennung von Meiser-Straßen fordern.
In der Öffentlichkeit hatte sich das Bild einer Kirche im Widerstand ohne Fehl und Tadel etabliert. Das bedurfte der Korrektur und das bedarf auch heute noch der Korrektur. Die Autoren der ersten drei Artikel des Sammelbandes berichten über solche Korrekturen für die Phase der Revolution und Räterepublik. Axel Töllner vom Institut für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, wo er an dem Forschungsprojekt "Synagogen in Bayern" arbeitet, wertet erstmals das "Evangelische Gemeindeblatt für den Dekanatsbezirk München" und den "Kirchenboten für die evangelische Gemeinde München" aus und kommt zu dem bemerkenswerten Schluss, dass politische Morde während der Revolutions- und Rätezeit nach der Gesinnung der Mörder bewertet wurden. Evangelische Geistliche beurteilten die Morde durch Weißgardisten an 21 katholischen Gesellen relativ milde, wenn nicht verharmlosend.
Mit der Revolutions- und Rätezeit befasst sich auch Angela Hermann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am NS-Dokumentationszentrum. In ihrer erstmals vorgenommenen vergleichenden Analyse von Gesandtschaftsberichten und Berichten Eugenio Pacellis, dem damaligen Nuntius in München und späteren Papst Pius XII., arbeitet sie überzeugend heraus, dass sich ausgerechnet der Nuntius in besonderer Deutlichkeit antisemitischer Stereotypen bediente. So verunglimpfte er den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner, obwohl Berliner, mehrere Male als galizischen Juden. Damit unterstützt Hermann die negative Bewertung des in der Literatur bekannten Pacelli-Berichts (vom 18.4.1919) über die Revolutionäre der Räteregierung. Die auch in diesem zahlreich vorhandenen, klassischen, antisemitischen Stereotypen lösten unterschiedliche Reaktionen aus. Katholische Historiker zum Beispiel behaupten gern, der Text stamme gar nicht von Pacelli, der Politologe Daniel Goldhagen [2] urteilt hingegen, die Zeilen würden Pacelli klar als Antisemiten ausweisen, der Kirchenhistoriker Hubert Wolf [3] wertet mit Bedacht, räumt aber ein, an eine "jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung" habe er geglaubt, und Michael F. Feldkamp [4] hält rein gar nichts von Versuchen, den bewunderten großen Kirchenpolitiker aufgrund dieses Berichts als frühen Antisemiten zu entlarven. Angesichts der widerstreitenden Meinungen über die päpstliche Haltung zu den Juden legt Hermann ein punktuelles, aber sehr konkretes und beachtliches Forschungsergebnis vor.
Die Herausgeberin, Antonia Leugers, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Tübingen, ist neben einer längeren, sehr lesenswerten Einleitung mit zwei Beiträgen vertreten. Beide beschäftigen sich mit dem ebenfalls umstrittenen Münchner Erzbischof Michael von Faulhaber. Zum einen widmet sie sich der Frage, ob Faulhaber ein Kriegshetzer gewesen sei, und schlussfolgert argumentationsfreudig, er zähle zu den Bischöfen, die eine theologische Legitimation des Krieges lieferten.
Zum anderen untersucht sie Faulhabers Krisendeutung 1918/19, was nicht neu ist, aber sie wertet hierzu erstmals das Tagebuch des Münchner Erzbischofs aus. Von ihm verspricht sich die Forschung Aufklärung über seine Rolle im Nationalsozialismus. Die 30.000 Blatt über die Jahre 1911 bis 1952 verwahrte sein letzter Sekretär 60 Jahre lang in seiner privaten Wohnung. Dem naheliegenden Verdacht, die Kirche habe womöglich etwas verschweigen wollen, entgegnete der amtierende Kardinal mit der Freigabe der Quelle. Eine Reihe von Forschern des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und der Universität Münster bearbeiten in Kooperation mit dem Erzbischöflichen Archiv München das in Gabelsberger Kurzschrift verfasste Tagebuch. Die ersten Passagen sollen im Herbst 2014 online verfügbar sein.
Das Tagebuch, so kann Leugers jetzt schon berichten, birgt Informationen, die das Portrait Faulhabers neu konturieren und Motivationen seines Handelns freilegen. Zum Beispiel beabsichtigte er, zunächst den demokratischen Weg einzuschlagen, doch das Revolutionsgeschehen traf ihn schockartig. Das Tagebuch aus dieser Zeit offenbart einen angst- und krisengeschüttelten Menschen, der zu der festen Überzeugung gelangte, die "Judenrevolution" werde die Kirche vernichten. Das ließ ihn zunehmend auf gegenrevolutionäre Kräfte setzen. Er driftete nach rechts zu den paramilitärischen, antidemokratischen Verbänden, deren Fememorde er kannte, aber stillschweigend überging.
Die kirchenkritischen Artikel zeugen von einem gewissen Mut. So steht zu hoffen, dass die darin enthaltenen Impulse auf vielfältige Resonanz stoßen.
Anmerkungen:
[1] Ulrich von Hehl / Christoph Kösters (Bearb.): Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung, Paderborn 1984.
[2] Daniel Jonah Goldhagen: Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne, Berlin 2002, 66.
[3] Hubert Wolf: Papst & Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich, München 2008, 93.
[4] Michael F. Feldkamp: Pius XII. und Deutschland, Göttingen 2000, 35.
Antonia Leugers (Hg.): Zwischen Revolutionsschock und Schulddebatte (= theologie.geschichte; Beiheft 7), Saarbrücken: universaar 2013, 310 S., ISBN 978-3-86223-059-4, EUR 15,80
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