Der Begriff "Getto" symbolisiert wie kaum ein anderes Wort das jüdische Leben und Leiden während des Holocaust. Die 1939 erstmals in Polen eingerichteten Gettos trugen maßgeblich zur Isolierung der Juden von anderen Bevölkerungsgruppen bei. Sie unterstanden fast durchweg lokalen (militärischen oder zivilen) Besatzungsbehörden, die einzelne Wohnviertel innerhalb von Städten kurzerhand zu Sperrgebieten erklärten. Dabei kam es zu Großgettos wie Litzmannstadt / Łódź oder Warschau mit zeitweise 160.000 bis 500.000 Insassen, aber es existierten auch sogenannte "Dorfgettos" mit wenigen hundert Menschen. Nicht immer waren die Gettos vollständig von der Außenwelt abgeriegelt, doch es lebten hier fast ausschließlich Juden (sowie zum Teil die aus den sogenannten "Zigeunerlagern" dorthin verschleppten Roma und Sinti). Die Lebensbedingungen waren geprägt von Armut, Hunger und Krankheiten, binnen kurzer Zeit herrschten fast immer katastrophale Zustände. Arbeit erwies sich meist als einzige Möglichkeit, (vorerst) zu überleben. Gleichwohl ist das Thema "Arbeit in den nationalsozialistischen Gettos" ein Desiderat der Forschung.
Hier setzt der zu besprechende, von Jürgen Hensel und Stephan Lehnstaedt herausgegebene Sammelband an. Er umfasst 20 vor allem von deutschen und polnischen Historikerinnen und Historikern verfasste Beiträge und geht auf eine gleichnamige Tagung zurück, die im Dezember 2010 stattfand, organisiert und veranstaltet vom Deutschen Historischen Institut Warschau und dem Warschauer Jüdischen Historischen Institut (Żydowski Instytut Historyczny). Lehnstaedt leitet den Band ein, abgerundet wird er durch ein hilfreiches Personenregister (während ein Ortsregister leider fehlt). Im ersten Teil des Bandes geht es um die Voraussetzungen und eher allgemeine ökonomische Aspekte der Gettoarbeit. Christian Westerhoff etwa zeigt am Beispiel der Rekrutierung und Beschäftigung jüdischer Arbeiter im besetzen Polen und Litauen während des Ersten Weltkriegs, dass gemessen an Umfang, ideologisch-rassistischer Ausrichtung und Gewaltformen des Arbeitseinsatzes ein grundsätzlicher Unterschied zu den Verhältnissen nach 1939 bestanden habe und dass zudem keine "direkten Lernprozesse[...] und Kontinuitätslinien" zu diesen nachzuweisen seien (51). Ingo Loose fragt nach dem Stellenwert der Gettoarbeit für die NS-Kriegswirtschaft und hält abschließend fest, dass dieser keine kriegsentscheidende Bedeutung zukam.
Der zweite, und mit zwölf Beiträgen umfangreichste Teil des Bandes liefert eine Übersicht zur Gettoarbeit im besetzten Osteuropa. Untersucht werden Warschau, der Warthegau, Ostoberschlesien, das Generalgouvernement, der Bezirk Bialystok, der Regierungsbezirk Zichenau, Litauen, die Generalkommissariate Lettland und Weißruthenien, das Reichskommissariat Ukraine und Ostukraine, Transnistrien, Theresienstadt und Ungarn. Die Ergebnisse der Einzelstudien können hier nicht en détail referiert werden. Vielmehr sind zwei Aspekte hervorzuheben: zum Ersten die große Bandbreite der Gettoarbeit, die sich - trotz der unterschiedlichen Quellendichte und des höchst ungleichen Forschungsstandes - deutlich abzeichnet. Dies betraf die Arbeitsform und -organisation (zu nennen sind etwa Arbeitsbataillone, regelrechte Zwangsarbeitslager, sogenannte, meist von den Judenräten eingerichtete "Shops" oder die Gettoarbeit bei deutschen Firmen), die beteiligten NS-Akteure und ihre ideologische Prägung bzw. Motivation, Rolle und Einflussmöglichkeiten der Judenräte, die "Effizienz" der im Getto geleisteten Arbeit, den Grad der "Ökonomisierung" der Gettoarbeit insgesamt, das Maß an "Freiwilligkeit", mit der die Betroffenen eine Arbeit aufnahmen sowie die Form ihrer Entlohnung und nicht zuletzt: die Überlebenschancen durch die Arbeit. Trotz aller Unterschiedlichkeit - Lehnstaedt formuliert einleitend sogar: "Im Grunde war jedes Ghetto ein Sonderfall" (15) - wird zum Zweiten deutlich, dass die Gettoarbeit von der antisemitischen Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten überwölbt wurde. So konnten 1939 in Polen Gettos und Gettobetriebe auch deshalb entstehen (und sich bis weit in die zweiten Kriegshälfte hinein als fester Wirtschaftsfaktor der Mikroökonomie etablieren), weil die deutschen Einheiten zu diesem Zeitpunkt noch keinen mörderischen Gesamtplan zur "Endlösung der Judenfrage" verfolgten, während sie nach dem Überfall auf die Sowjetunion und vor allem nach dem Entschluss zum Holocaust in den nun besetzten Gebieten Gettos häufig nur noch als Sammelstellen für die Deportation in die Vernichtungslager einrichteten. "Arbeit" hatte hier dann nur einen geringen Stellenwert. Nicht selten kam es nicht einmal mehr zur Errichtung eines Gettos, weil man die Juden sofort erschoss.
Der dritte Teil des Bandes springt in die Gegenwart und thematisiert einige Aspekte im Zusammenhang mit dem sogenannten "Gettorentengesetz" (Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Getto), das der Bundestag im Jahr 2002 verabschiedete und das denjenigen jüdischen Verfolgten eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung in Aussicht stellte, die sich in einem NS-Getto eine entlohnte Beschäftigung gesucht hatten. Da nur wenige Anträge bewilligt wurden, versuchten viele ehemalige Verfolgte ihren Anspruch auf dem Rechtsweg durchzusetzen und reichten Klage bei den Sozialgerichten ein. Vielfach herrschte dort die Vorstellung vor, dass die Betroffenen Einzelheiten zu ihrer individuellen Beschäftigungssituation berichten könnten. Vor diesem Hintergrund thematisiert die Sozialpsychologin Kristin Platt, die als Gutachterin an derartigen Verhandlungen beteiligt war, in ihrem Beitrag, ob und inwiefern die Überlebenden sich in Anbetracht der erlittenen Verfolgung überhaupt an Einzelheiten der Gettoarbeit erinnern können. Zur Klärung vieler Sachverhalte waren die Gerichte vielmehr auf historisches Fachwissen angewiesen. Dass es zu einer Zusammenarbeit zwischen Juristen und Geschichtswissenschaftlern kam und wie diese sich gestaltete, schildert Jan-Robert von Renesse aus der Perspektive eines mit den "Gettorenten" befassten Richters sowie Jürgen Zarusky aus der Sicht der Historiker.
Die zunächst etwas ungewöhnlich anmutende Verknüpfung zwischen dem historischen Teil des Bandes und dem aktuellen Thema ist folgendermaßen zu erklären: Die Sozialgerichte sahen sich mit dem Umstand konfrontiert, dass kaum Informationen über die Arbeitsverhältnisse in den Gettos vorlagen beziehungsweise - wie Platt beschreibt - von den Überlebenden abgefragt werden konnten. Einzelne Richter - wie insbesondere von Renesse - gaben daraufhin Gutachten bei Historikern in Auftrag, um sich über grundlegende historische Fakten zu informieren. Auf diesen Gutachten beruht ein Teil der im Sammelband vorgestellten Fallstudien. Der Band wie auch die 2012 in Warschau veranstaltete Konferenz wollen letztendlich einen Beitrag dazu leisten, die Ergebnisse der Gutachten zu bündeln, die im Rahmen der Verfahren um die "Gettorenten" entstanden sind. Der Zusammenhang ist also etwas ungewöhnlich (stellen professionelle Historiker gewöhnlich doch ihre eigenen Fragen, die sich meist aus dem fachwissenschaftlichen Diskurs speisen), aber im Ergebnis durchaus gewinnbringend. Denn die historischen Einzelstudien liefern vielfältige, quellengesättigte Ergebnisse, die den Kenntnisstand über die nationalsozialistischen Gettos und die dort verrichtete Arbeit enorm erweitern. Man würde sich nur wünschen, dass aus dem reichhaltigen Material eine übergreifende Monografie zum Thema entstünde, die dann auch einen weiteren gewichtigen Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis von ökonomischem Kalkül und weltanschaulich motivierter Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus liefern könnte.
Jürgen Hensel / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Arbeit in den nationalsozialistischen Ghettos (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 29), Osnabrück: fibre Verlag 2013, 438 S., ISBN 978-3-938400-92-0, EUR 39,80
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