Für einmal wollen wir hinten beginnen, denn dort findet sich im vorliegenden Buch Zündstoff, historischer und politischer, und zudem eine Art Geschichtswette. "Die Aussichten, nicht nur für den Umgang mit Natur und Umwelt, sondern auch für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltige Strukturen zu erreichen, stehen besser als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den letzten 250 Jahren", schreibt Franz-Josef Brüggemeier im letzten Abschnitt seiner Abhandlung (371) und fügt an: Wer diese Aussage für zu optimistisch halte, solle für den genannten Zeitraum eine andere Phase benennen, die bessere Chancen für eine nachhaltige Entwicklung geboten habe. Er oder sie werde, prophezeit der Autor, keine Alternative nennen können. Der Befund ist mutig, dürfte er doch viele Umweltbewegte provozieren und auch diesen oder jenen (Umwelt-)Historiker zum Widerspruch reizen, und er steht nicht nur am Ende von gut 350 dicht bedruckten Seiten, sondern ist zugleich die Quintessenz einer 30-jährigen Beschäftigung mit der Thematik. Schade ist, dass uns Brüggemeier vorenthält, welche Wege seine Gedanken in den letzten 15 Jahren, seit dem Erscheinen seiner letzten umwelthistorischen Überblicksdarstellung, genommen haben. [1]
Wie kommt der Freiburger Sozial-, Wirtschafts- und Umwelthistoriker zum Schluss, dass wir, wenn nicht in der besten aller möglichen, so doch in der besten aller real existierenden Welten leben? Konzeptioneller Ausgangspunkt ist eine auf die Entfaltung der modernen Technik gemünzte Beobachtung von Werner Sombart: Nicht im Strom der Erfindungen, hielt jener 1902 fest, sondern in der "Entwaltung (Emanzipation) von den Schranken der lebendigen Natur" (zit. nach Brüggemeier, 9) sei das beherrschende Grundprinzip der Entwicklung zu sehen. Brüggemeier überträgt diesen Gedanken auf die Analyse moderner Gesellschaften insgesamt. Was moderne von vormodernen Gesellschaften trenne, sei das stete Bemühen um die Verschiebung (nicht Überwindung) der Schranken der Natur. Die revolutionäre Neuerung am Übergang zur Neuzeit sieht er in einer aufkommenden Kultur des systematischen Experimentierens, in dessen Folge die menschlichen Handlungsmöglichkeiten und die gesellschaftlichen Kapazitäten ausgeweitet wurden, wobei lange Zeit das Verfahren des Versuchs und Irrtums vorgeherrscht habe. Dieser Ansatz ist interessant. Allerdings verwendet Brüggemeier den zentralen Begriff des Experimentes dermaßen breit - von klassischen wissenschaftlichen Experimenten über staatliche und andere Regelungen bis zu individuellen und kollektiven Verhaltensweisen -, dass er sein analytisches Potential weitgehend einbüßt. Mehr oder weniger jede Handlung wird zum Experiment, inklusive solcher, bei denen sich die Akteure der experimentellen Natur ihres Handelns nicht bewusst waren. Damit vergibt Brüggemeier die Chance, mit einem schärferen beziehungsweise differenzierten Begriff des Experiments die historischen Entwicklungen zu konturieren und qualitative und quantitative Unterschiede herauszuarbeiten.
Die Entwaltung von den Schranken der Natur, darauf insistiert Brüggemeier, sei kein geradliniger Prozess, sondern von Erfolgen ebenso geprägt gewesen wie von Misserfolgen, von Wissen und Nichtwissen, von Eingreifen und Abwarten. Entsprechend vielgestaltig und widersprüchlich seien die historischen Erfahrungen im Umgang mit Natur und Umwelt, sodass sie sich pauschalen Urteilen oder einfachen Lehren verwehrten. Um aus der Umweltgeschichte zu lernen, bedürften die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen der genauen historischen Analyse. Damit wendet sich Brüggemeier gegen eine vorschnelle Instrumentalisierung der Vergangenheit, wie sie gegenwärtig in gesellschaftlichen Zukunftsentwürfen oft zu finden ist. Implizit benennt er damit aber auch ein Grundproblem historischer Überblickswerke: Wie überwindet man die Kluft, die sich zwischen einer am historischen Material entlang geschriebenen und damit notgedrungen kleinteiligen Analyse und einer synthetisierenden Darstellung großer Entwicklungslinien zwangsläufig auftut? Brüggemeier sucht eine Balance, indem er bewusst Fallgeschichten in seine Erzählung einwebt, in der er überwiegend chronologisch vorgehend die deutsche Geschichte seit dem 18. Jahrhundert auffächert. Schwerpunkte setzt er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in der Zeit nach 1970, denen er mehrere zeitlich parallele Kapitel widmet, wobei insbesondere für die letztere Zeitspanne die Aufteilung und Abgrenzung des Materials undurchsichtig bleibt. Hier, wie auch in den einzelnen Kapiteln allgemein, wünschte man sich eine bessere Leserführung.
Schwerer wiegt ein anderes Versäumnis. Der Klappentext verspricht "einen umfassenden Überblick über das Verhältnis von Menschen, Natur und Umwelt im Industriezeitalter", in einer auch international erstmaligen Breite. Erstaunt nimmt man bei der Lektüre dann zur Kenntnis, dass außer im einführenden und abschließenden Kapitel Deutsche Nationalgeschichte vorgetragen wird. Viel zu selten wird die Perspektive über die Grenzen Deutscher Lande hinaus geweitet, eine postkoloniale, transnationale oder globale Erweiterung der Deutschen Geschichte findet nicht statt. Brüggemeier nimmt diese Beschränkung wortlos vor, nach einer Begründung seiner Entscheidung oder einer Reflektion über deren Konsequenzen sucht man vergebens. Diese sind gravierend: Die nicht linear fortschreitende, aber insgesamt zweifellos zunehmende Vernetzung der Welt, wie sie in den letzten 250 Jahren stattgefunden hat und die gerade für die Umweltgeschichte, ob global oder (trans-)national, von entscheidender Bedeutung ist, gerät aus dem Blickfeld. Und selbst dort, wo sich die Welt in Brüggemeiers Geschichte drängt, wird sie tendenziell nur einseitig und nicht wechselseitig aufgegriffen. So erklärt er beispielsweise, dass europäische Gesellschaften durch den Überseehandel an Wohlstand und Stabilität und damit auch Nachhaltigkeit gewonnen hätten. Wie sich diese Beziehung auf die involvierten außereuropäischen Gesellschaften auswirkte, wird nicht besprochen.
Eine weitere Konsequenz dieser Anlage ist, dass die Verallgemeinerung der Befunde, wie sie Brüggemeier im Schlusskapitel und im eingangs zitierten und paraphrasierten Schlussabschnitt vornimmt, der wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Hier ist mit Brüggemeier gegen Brüggemeier zu argumentieren, dass die historischen Erfahrungen genau analysiert werden müssen. Daher ist es unzulässig, von deutschen Erfahrungen auf die Welt zu schließen. Das Buch deswegen zu übergehen, wäre hingegen ein doppelter Fehler. Nicht nur verpasste man Brüggemeiers kenntnisreiche Darlegungen zur deutschen Industrie- und Umweltgeschichte, sondern auch dessen Einladung zur Debatte. Entwickelt sich die Moderne grundsätzlich in Richtung Nachhaltigkeit, wie Brüggemeier behauptet, oder braucht es radikale Änderungen, wie sie etwa jüngst der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen forderte? [2] Wie lesen sich aktuelle Bestrebungen zur Nachhaltigkeit, wenn man sie mithilfe historischen Erfahrungswissens perspektiviert? Die Geschichtswissenschaften sind gefragt und gefordert.
Anmerkungen:
[1] Franz-Josef Brüggemeier: Tschernobyl, 26. April 1986: Die ökologische Herausforderung. München 1998.
[2] Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine grosse Transformation. Berlin 2011.
Franz-Josef Brüggemeier: Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute, Essen: Klartext 2014, 450 S., ISBN 978-3-8375-1006-5, EUR 22,95
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