Am 10. Juni 1813 wurde im Sinne einer etatistisch-aufgeklärten Modernisierung des Staatswesens und im Rahmen der Emanzipationsgesetzgebung das "Edikt die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern betreffend" erlassen. Der aus 34 Paragrafen bestehende Gesetzestext wurde im Allgemeinen "Judenedikt" genannt. Die Veränderung der jüdischen Erwerbsstruktur hin zu sogenannten "produktiven" Arbeitsformen, die Reglementierung der Mobilität, aber auch die Anpassung an Verwaltungsnotwendigkeiten, wie sie etwa durch die vorgeschriebene Wahl eines festen Familiennamens ihren Ausdruck fand, zählten zu den Hauptzielen des Ediktes. Die Niederlassungsfreiheit blieb weiterhin stark beschränkt. Vor der Gleichberechtigung stand zunächst die Erziehung der jüdischen Bevölkerung zu "würdigen" Staatsbürgern. Von diesen Maßnahmen waren in Bayern 1818 etwa 53.000 Juden betroffen (8). Als Instrument der systematischen Erfassung diente in den rechtsrheinischen Gebieten bis zum Jahr 1861 die lokale Registrierung in die Matrikellisten. Die Eintragung in die Matrikel war nicht nur zwingende Voraussetzung für die Eröffnung eines Ansässigmachungs- und Verehelichungsverfahrens, das im Übrigen auch von den christlichen Mitbürger im Falle eines Niederlassungs- und Heiratswunsches durchlaufen werden musste, sondern diente ebenso wie die Leistung des Untertaneneides als unabdingbare Grundlage für den Erwerb der bayerischen Staatsbürgerschaft.
Während die Bestimmungen des Judenedikts zweifelsfrei einen restriktiven Charakter aufweisen, kann dieser Befund, wie der Autor einleitend argumentiert, entgegen einigen Annahmen in der älteren Forschungsliteratur nicht eins zu eins auf die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelungen übertragen werden. Zwischen Rechtsnorm und Rechtspraxis existierte mitunter eine deutliche Diskrepanz, deren Ausmaße und Bedingungsgefüge den Kern der Untersuchung bilden (42). Um das Judenedikt in seiner Gesamtheit und in Hinblick auf die Auswirkungen für die jüdische Bevölkerung bewerten zu können, muss neben die Analyse des Gesetzestextes folglich die Untersuchung der praktischen Handhabung der normativen Vorgaben treten.
Die Studie Mehlers gliedert sich in sieben Kapitel. Die ersten Abschnitte bieten gemäß der im Untertitel des Buches avisierten Dreiteilung zunächst eine Einführung in den historischen Hintergrund und die inhaltliche Gestaltung des Judenediktes. Der Fokus Mehlers, der sich bereits in seiner Dissertation mit dem Judentum in der bayerischen Rhön beschäftigt hatte [1], richtet sich jedoch auf die bisher noch wenig erforschte Matrikelpraxis. Ihr widmet er im vierten Kapitel den Großteil seiner Arbeit. Einen Schwerpunkt legt Mehler hierbei auf die Untersuchung der Anzahl und auf die räumliche Verteilung der Neuimmatrikulierten. Besonders interessiert ihn die Erfassung der Immatrikulationen über der festgelegten Normalzahl, womit die Vergabe von irregulären Matrikelstellen gemeint ist, die auf den im Judenedikt vorgesehenen Ausnahmeregelungen beruhten und überraschenderweise in einigen Kommunen zeitweise sogar beinahe den Regelfall darstellten.
Die Immatrikulationen über der Normalzahl sind nach Mehler als Indiz einer liberalen Anwendungspraxis zu werten. Einhergehend mit der Untersuchung der Gruppe der Neuimmatrikulierten widerlegt er so die in der Literatur weiterverbreitete Annahme, dass die Matrikelstelle an den (ältesten) Sohn des Inhabers weitergegeben wurde. Mehler verweist unter anderem darauf, dass in Regensburg nur drei von fünfzehn zwischen 1816 und 1861 erfolgten genehmigungspflichtigen Immatrikulationen auf die Söhne der jeweiligen Matrikelbesitzer übergingen (110). Unerwähnt bleibt an dieser Stelle jedoch, inwieweit es sich in den anderen Fällen um kinderlose Juden handelte, oder um Juden, deren Söhne bereits an einem anderen Ort eine Matrikelstelle erhalten hatten, bzw. aus Bayern emigriert waren.
Wie der Autor betont, spielten bei der Vergabe vielfältige Faktoren eine Rolle. Nicht nur geografische, ökonomische und politische Gegebenheiten, sondern auch persönliche Motive und Einstellungen sowie die Arbeitsweise der Beamten vor Ort beeinflussten die Matrikelpraxis. Auch Korruption könnte ein Beweggrund für die Nutzung der Ausnahmeregelungen und Immatrikulationen über der Normalzahl gewesen sein. Nicht unterschätzt werden dürften zudem die demografischen Entwicklungen und die divergierende Nachfrage der jüdischen Bewerber selbst. Hier ist ein deutliches Gefälle zwischen der Ansässigmachung auf dem Lande, also dem traditionellen Siedlungsmuster, und der Tendenz zur Urbanisierung feststellbar.
Mit dem Aufenthalt außerhalb der Heimatgemeinde sowie dem in Paragraf 11 formulierten Einwanderungsverbot befassen sich im Anschluss an den Hauptteil zwei kleinere Kapitel. Auch in diesem Zusammenhang gab es, wie der Autor überzeugend darstellen kann, zahlreiche Ausnahmen. So konnten in Bayern nicht nur heiratswillige "ausländische" Jüdinnen ohne Schwierigkeiten eine neue Heimat finden, auch der Status des temporären Aufenthalts ermöglichte den Verbleib, wenn auch ohne Erhalt der Staatsbürgerschaft (150).
Mehlers Arbeit stellt die gängige Lesart der Matrikelpraxis als restriktives Werkzeug mehr als nur in Frage. Trotz größerer Überlieferungslücken gelingt es, die Untersuchung auf eine breite empirische Basis zu stellen. Neben der statistischen Überlieferung flossen entsprechend der zahlenmäßigen Verteilung der jüdischen Bewohner auf die drei fränkischen Kreisregierungen vor allem Aktenmaterialien der Staatsarchive Bamberg, Nürnberg und Würzburg in die Analyse ein, die zudem um die Bestände des Hauptstaatsarchives und Stadtarchivs München sowie des hessischen Staatsarchives in Marburg ergänzt wurden.
Den von Mehler formulierten Forschungsdesideraten kann nur beigepflichtet werden. So wären weitere auf eine breitere Quellenbasis gestützte (Regional-) Studien zur Überprüfung der Ergebnisse wünschenswert. Zu denken wäre hier beispielsweise an die Auswertung der 2003 von der Gesellschaft für Familienforschung in Franken gemeinsam mit dem Staatsarchiv Nürnberg auf CD-ROM veröffentlichten Judenmatrikel für Mittelfranken. [2] Für die Region Schwaben lassen sich bereits erste Ergänzungen in dem jüngst von Brenner und Ullmann herausgegebenen Sammelband "Die Juden in Schwaben" finden. [3]
Besonders hervorzuheben ist die umfangreiche Visualisierung der Ergebnisse, die Mehler dem Leser in Form von 17 Tabellen und vier Grafiken an die Hand gibt. Als hilfreich und benutzerfreundlich erweist sich zudem das Ortsregister. Für die Anschlussfähigkeit an die internationale Forschung sorgt die sechsseitige englischsprachige Zusammenfassung im Anhang des Buches.
Mit der seit 2006 erscheinenden Reihe widmet sich der Bezirk Mittelfranken gezielt der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte und Kultur der Juden in Franken. Der sechste Band verfasst von Richard Mehler beleuchtet mit der Untersuchung des Matrikelwesens und ihrer Praxis einen für die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert zentralen Bereich. Der Autor beweist Mut zur Thesenbildung, was zugleich die Stärke der Studie ausmacht, die nun als Ausgangspunkt und Diskussionsgrundlage weiterer wünschenswerter Forschungen zur Matrikelpraxis und dem Judenedikt dienen wird.
Anmerkungen:
[1] Richard Mehler: Juden in der bayerischen Rhön 1803-1918, Dissertation Universität Würzburg 2011.
[2] Gesellschaft für Familienforschung in Franken e.V. / Staatsarchiv Nürnberg (Bearb.): Staatsarchiv Nürnberg. Die Judenmatrikel 1813-1861 für Mittelfranken, München 2003, CD-ROM.
[3] Claudia Ried: Jüdisches Leben auf dem Land im Wandel. Zu den Auswirkungen des bayerischen Judenedikts von 1813 auf schwäbische Landjudengemeinden, in: Die Juden in Schwaben, hgg. v. Michael Brenner / Sabine Ullmann, München 2013, 155-174. Im gleichen Band Rolf Kießling: Gab es einen pragmatischen Weg zur Emanzipation? Die jüdischen Gemeinden in Schwaben an der Schwelle zur Moderne, 175-199.
Richard Mehler: Die Matrikelbestimmungen des bayerischen Judenediktes von 1813. Historischer Kontext - Inhalt - Praxis (= Franconia Judaica; Bd. 6), Würzburg: Ergon 2011, XI + 204 S., ISBN 978-3-89913-874-0, EUR 25,00
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