Das wissenschaftliche Interesse an der Geschichte des Völkerrechts galt noch vor wenigen Jahren als schwach ausgeprägt - wenn denn seine Existenz in universitären Curricula nicht völlig ignoriert wurde. [1] Dieser Befund hat sich innerhalb kürzester Zeit in sein Gegenteil verkehrt: Vom "historiographical turn of international law" ist die Rede. [2]
Das von den Völkerrechtlern Bardo Fassbender und Anne Peters unter Mitarbeit von Simone Peter und Daniel Högger 2012 herausgegebene und seit 2014 als "paperback" vorliegende "Oxford Handbook of the History of International Law" bündelt zahlreiche der jüngeren Forschungsbeiträge zur Geschichte des internationalen Rechts im Spannungsfeld zwischen Politisierung, Moralisierung und Verrechtlichung. Es bietet insgesamt 65 Beiträge, vornehmlich verfasst von völkerrechts- und geschichtswissenschaftlichen, aber auch von politikwissenschaftlichen und philosophischen ExpertInnen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten. Der rundum gelungene Band ist in sechs Teile mit jeweils fünf bis 21 Beiträgen untergliedert, betitelt mit "Actors" (I.), "Themes" (II.), "Regions" (III.), "Interaction or Imposition" (IV.), "Methodology and Theory" (V.), "People in Portrait" (VI.). Die Beiträge in den Teilen I. bis V. bieten mit durchschnittlich 20-30 Seiten originelle, dicht geschriebene Zugänge zur jeweiligen Thematik und gehen zumeist über eine reine Darstellung des Forschungsstandes deutlich hinaus; die biographischen Skizzen (VI.) sind mit jeweils etwa fünf Seiten sehr knapp gehalten. Einleitungen und Zusammenfassungen der einzelnen Artikel, die Sammlung völkerrechtlicher Verträge ("Table of Instruments") sowie der Index erleichtern die Orientierung im voluminösen Sammelband ungemein. Die Literaturangaben regen zur vertiefenden Lektüre an. Damit ist das Handbuch auch Studierenden aller am Völkerrecht interessierten Fächer sehr zu empfehlen.
Wie im Vorwort und in der Einleitung begründet wird, besteht das Anliegen der Herausgeber darin, eine global- bzw. weltgeschichtliche Ausdifferenzierung der Völkerrechtsgeschichte(n) jenseits klassischer, westlich-liberaler Teleologien anzuregen. In Anlehnung an Bruce Mazlish kommen Fassbender und Peters zu dem Schluss, dass es die Aufgabe einer "global history of international law" sein müsse, globale Perspektiven anhand der Dialektik von globalen und lokalen Bezugspunkten und Interaktionen zu konstruieren (8). Das legt inter- und transkulturelle Narrative sowie eine Erweiterung der zu untersuchenden Handlungs- und Wissensräume nahe (4, 9). [3] Hierfür stehen nach Fassbender und Peters drei geschichtswissenschaftliche Erzählweisen zur Verfügung: "the history of events, the history of concepts, and the history of individual people". (11)
Eine erste Einschränkung zur angestrebten Überwindung des "Eurozentrismus'" formulieren die Herausgeber allerdings in Hinblick auf die Periodisierung der Völkerrechtsgeschichten im Handbuch. So konzentrieren sie sich auf die Zeit zwischen der Herausbildung des "modern international law" seit dem 16. Jahrhundert und der Gründung der Vereinten Nationen 1945. Die meisten Kapitel beziehen sich dann auch, obwohl in kritischer Auseinandersetzung, auf das "moderne Völkerrecht" mit seinen unbestreitbar europäischen Wurzeln. Zugleich fehlt an vielen Stellen eine vergleichende Auseinandersetzung mit jüngsten völkerrechtspolitischen Entwicklungen.
Eine zweite Einschränkung zu einer globalgeschichtlichen Erweiterung der Historiographie des Völkerrechts stammt von Jörg Fisch und Antonio Cassese in Teil I ("Actors"): Völkerrecht bzw. internationales Recht war und ist, seiner eigenen Terminologie zum Trotz, in erster Linie Staatenrecht. Insofern sind, wie die Herausgeber bemerken (13), machtpolitische Einflüsse auf das Völkerrecht nicht auszublenden, aber zu relativieren. Jörg Fisch gelingt das, indem er den Begriffen "peoples and nations" im Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Machtpolitik und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker nachspürt. Antonio Cassese beschreibt die allmähliche "self-limitation" des Staates als primärem Rechtssubjekt durch die Herausbildung einer internationalen Gemeinschaft und ihrer "realistisch" oder aber "idealistisch" inspirierten Institutionen wie dem "Europäischen Konzert der Großmächte" im 19. Jahrhundert oder dem Völkerbund. Auch in den Beiträgen zu Schiedsgerichten (Cornelis G Roelofsen) und zu internationalen Organisationen (Anne Peters und Simone Peter) geht es um Triebfedern der normativen Einhegung einzelstaatlicher Handlungsfreiheit.
Die analytisch auszudifferenzierenden Dichotomien von Recht und Politik sowie Staaten- und Menschenrecht durchziehen "Part II: Themes". Mary Ellen O'Connell behandelt in ihrem Beitrag "Peace and War" die Dialektik von (Rechts-)Frieden und Krieg anhand der Rechtfertigung und Kritik militärischer Gewalt seit der Antike. Dieses völkerrechtliche Themenfeld mit der längsten und schwierigsten Geschichte (O'Connell, 273) durchzieht das Handbuch und viele seiner Völkerrechtsgeschichten als roter Faden. So verweist Antje von Ungern-Sternberg auf die Überwindung religiös begründeter militärischer Gewalt und die allmähliche, wenn auch bruchhafte Säkularisierung des neuzeitlichen Völkerrechts.
Teil III zu völkerrechtshistorischen Regionen und interregionalen Begegnungen nimmt mit 18 Aufsätzen und 430 Seiten den deutlich größten Umfang im insgesamt 1280-seitigen Handbuch ein. Untergliedert in vier Regionen und "Encounters" kommt es dem Anspruch, eine globale und vergleichende Völkerrechtsgeschichte zu schreiben, am nächsten. Ein zentrales Thema bleibt dabei die (De-)Legitimation von Krieg und militärischer Gewalt. Fatiha Sahli und Abdelmalek El Ouazzani untersuchen die theoretische und kriegerische Konfrontationen des Islams mit dem europäischen Christentum und die Rechtfertigung militärischer Gewalt im "Jihad" (392).
Die vier Kapitel zur europäischen Entwicklung des Völkerrechts und seiner Wissenschaft behandeln die Herausbildung normativer Friedensordnungen und die Rechtfertigung militärischer Gewalt in diesem Prozess. In Auseinandersetzung mit Heinhard Steigers Begriff der "Zwischen-Mächte-Beziehungen" zeigt Martin Kintzinger, dass auch die politische Kommunikation im Spätmittelalter von einem Streben nach gemeinsamen Normen geprägt war. Heinz Duchhardt versteht den Westfälischen Frieden von 1648 als einen "turning point" in der Völkerrechtsgeschichte, der Friedenskongresse als Foren der Konfliktlösung institutionalisierte. Nach Miloš Vec war (auch) das europäische Völkerrecht zwischen 1814/15 und 1919 von einem irritierenden rechtlichen und normativen Pluralismus geprägt, den Vec als "Multinormativität" bezeichnet (677). Der angestrebten Autonomie der zeitgenössischen Völkerrechtswissenschaft und der Verrechtlichung internationaler Beziehungen standen Politisierung und Moralisierung in brisanten Feldern wie der "humanitären Intervention" gegenüber (661). Der während der Abfassung verstorbene Marburger Historiker Peter Krüger schließt die Darstellung des europäischen Völkerrechts mit einer Analyse der völkerrechtspolitischen Diskurse zwischen 1919 und 1945, einer dramatischen Phase des gewaltsamen Niedergangs und der Neukonstruktion des nun vollends globalisierten Völkerrechts.
Außerordentlich bereichernd sind die regionalen Studien auch in Hinblick auf interkulturelle Beziehungen. Behandelt werden etwa die Kapitulationen des Osmanischen Reichs (Umut Özsu), das Problem von Intervention/Nicht-Intervention in Lateinamerika (Jorge L. Esquirol) und in Indien (Bimal N. Patel) sowie die (ungleiche) Öffnung Chinas (Shin Kawashima) und Japans (Masaharu Yanagihara) durch europäische Imperialmächte. Lauri Mälksoo verweist auf den vielschichtigen Charakter der russisch-europäischen Beziehungen zwischen Isolation, Konfrontation und Kooperation. Mit seinem Portrait des russischen Kronjuristen und Diplomaten Friedrich Fromhold von Martens (1845-1909) in Teil VI des Handbuchs zeigt Mälksoo die gravierenden Widersprüche zwischen russischer Politik und europäischer Rechtswissenschaft auf, denen Martens ausgesetzt war.
In Teil IV ("Interaction or Imposition") werden zeitgenössische Begriffe und Konzepte der regionalen Interaktionen systematisch behandelt, etwa anhand "The Civilized and the Uncivilized" (Liliana Obregón). Hervorragend formuliert ist das Kapitel von Arthur Eyffinger zur Entwicklung der modernen Diplomatie zwischen 1450 und 1950. Den Eurozentrismus der Völkerrechtsgeschichte(n) thematisieren Martti Koskenniemi, Arnulf Becker Lorca und Oliver Diggelmann mit kritischem Blick auf die Theorie- und Methodenbildung in Teil V des Handbuchs. Die Autoren geben zu bedenken, dass Konzeptualisierungen des "Rechts" meist von europäischen Bezugspunkten ausgehen (Koskenniemi, 970), sowohl in Hinblick auf ihre zeitliche Tradition (dazu Kaius Tuori) als auch angesichts der Ordnung regionaler Rechtsräume nach europäischem Vorbild (dazu Antony Anghie). Dass das Völkerrecht von theoretischen sowie politischen (Vor-)Urteilen geprägt ist, unterstreicht Anthony Carty ("Doctrine versus State Practice"): Anhand der Analyse des gerechten Krieges bei Hugo Grotius und in Anlehnung an Richard Ned Lebow und Michel Foucault argumentiert Carty, dass die für das Völkergewohnheitsrecht so wichtige "Staatenpraxis" ("consuetudo") vornehmlich eine diskursive Konstruktion der Völkerrechtsdoktrin darstellt.
Der abschließende VI. Teil des Handbuchs liefert gelungene Portraits von 20 Denkern und einer Denkerin, Bertha von Suttner (Simone Peter). Die biographischen Skizzen beleuchten Naturrechtslehrer und ihre Theorien, etwa zum gerechten Krieg ("bellum iustum"), ebenso wie positivistische Rechtswissenschaftler und Philosophen zwischen der frühen Neuzeit und der Mitte des 20. Jahrhunderts. Zentrale Themen sind die europäische Expansion und die Wechselwirkungen der normativen Sphären Politik, Recht und Moral in der völkerrechtlichen Disziplin. Mit nur einem nicht-westlichen Portraitierten, Muhammad al-Shaybānī (749/50-805) (Mashood A. Baderin), ist die Auswahl allerdings recht klassisch ausgefallen.
Bei dem Handbuch handelt es sich insofern also, wie die Herausgeber einräumen, um einen ersten Schritt auf der "road less traveled by" (1) einer nicht-hegemonialen, inter- und transkulturellen Erweiterung der Völkerrechtsgeschichte. Auch wenn sich die Beiträge überwiegend auf das europäische Staatensystem und sein Völkerrecht beziehen (müssen), ist diese Anregung für eine Weltgeschichte des Völkerrechts mit dem mittlerweile preisgekrönten Sammelband außerordentlich gut gelungen. Es handelt sich um eine intellektuelle Fundgrube, die zur vergleichend-historischen Forschung mit Fragen des Rechts und der Rechtfertigung internationaler Beziehungen einlädt. Die jüngeren weltpolitischen Ereignisse und die "Beharrlichkeit des Krieges" [4] in der menschlichen Geschichte jedenfalls legen eine historisch fundierte Auseinandersetzung mit den im Sammelband bestens besprochenen Thematiken nahe.
Anmerkungen:
[1] Ingo J. Hueck: Völkerrechtsgeschichte: Hauptrichtungen, Tendenzen, Perspektiven, in: Wilfried Loth / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Internationale Geschichte: Themen - Ergebnisse - Aussichten, München 2000, 267-286, 269.
[2] George Rodrigo Bandeira Galindo: Martti Koskenniemi and the Historiographical Turn in International Law, in: European Journal of International Law, 16:3 (2005), 539-559; Für eine Übersicht jüngerer Forschungsbeiträge siehe Marcus M. Payk: Institutionalisierung und Verrechtlichung: Die Geschichte des Völkerrechts im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), 861-883.
[3] Vgl. Jürgen Osterhammel: Alte und neue Zugänge zur Weltgeschichte, in: Ders. (Hg.): Weltgeschichte, Stuttgart 2008, 9-34, 9.
[4] Lothar Brock: Die Beharrlichkeit des Krieges. Gewalt und Gegengewalt seit dem Ende der Bipolarität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2015, 57-67.
Bardo Fassbender / Anne Peters / Simone Peter u.a. (eds.): The Oxford Handbook of the History of International Law, Oxford: Oxford University Press 2014, XL + 1228 S., ISBN 978-0-198-72522-0, GBP 44,99
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.