sehepunkte 15 (2015), Nr. 5

Martin Liepach / Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte

Glaubt man aktuellen Umfragen, so wollen 81 Prozent der Deutschen den Holocaust hinter sich lassen. [1] Die Umfrage spiegelt damit einen Prozess der zunehmenden Indifferenz, Ignoranz und Abwehrhaltung gegenüber dem Holocaust in unserer Gesellschaft wider. Bereits 1950 hatte Hannah Arendt als ein "Vermächtnis des Nazi Regimes" festgestellt, dass der "wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht" in der Haltung läge, "mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen". [2] Eine wachsende Mehrheit verkennt demnach die Tatsache, dass die Shoa Teil der deutschen Geschichte ist.

Das Ergebnis des Meinungsbildes weist einerseits darauf hin, wie dringend notwendig es ist, die Shoa als Teil der deutschen Geschichte im Schulunterricht zu vermitteln und lässt andererseits erahnen, welche didaktische Herausforderung die Beschäftigung mit dem Thema weiterhin darstellt. Die historische Betrachtung von Antisemitismus, Judenverfolgung und Völkermord - auch im Sinne einer mahnenden Erinnerungskultur - bleibt im Schulbereich unverzichtbar.

Allerdings ist eine Beschränkung jüdischen Lebens auf eine Verfolgungsgeschichte eindimensional und inhaltlich sowie didaktisch unzureichend. Was häufig übersehen wird: Juden prägten und gestalteten aktiv Gesellschaft, Kultur und Politik. Die Geschichte der Juden in Deutschland kann und darf nicht als reine "Opfergeschichte" erzählt werden. Juden waren und sind Teil höchst unterschiedlicher Prozesse der deutschen und europäischen Geschichte.

Genau von dieser zentralen Beobachtung gehen die Autoren Martin Liepach und Wolfgang Geiger in ihrer Untersuchung von 74 bundesdeutschen Schulbüchern der Sekundarstufe I aus: "Die Geschichte der Juden ist nicht die Geschichte des Antisemitismus." (7) Dazu legen sie eine qualitative Schulbuchanalyse und Anregungen für weitere didaktische Diskussionen vor. Gerade den ersten Teil wollen sie nicht als "Schulbuchschelte", sondern als "Aufschluss über die geschichtskulturelle Wahrnehmung von Juden und der gemeinsamen christlich-jüdischen Geschichte" verstanden wissen. (8)

Schon im Abschnitt über die Antike erkennen die Autoren "heikle und nicht einfach darzustellende Themen" wie die Historisierung der biblischen Geschichte oder das Verhältnis Jesu zu den Juden und bemängeln deren häufig unzureichende Umsetzung. "Insgesamt reichen die wenigen Passagen zur jüdischen Geschichte in Frühzeit und Antike nicht aus, einem Verständnis der weiteren Geschichte gerecht zu werden." (21, 25, 26) Die hier bereits geschaffene Schieflage in der Darstellung jüdischen Lebens als Opfergeschichte setzt für die Zeit des Mittelalters fort. Jüdische Kultur wird in dieser "in jeder Hinsicht prägenden Epoche" nicht nur vernachlässigt. Die Darstellung des christlich-jüdischen Verhältnisses zeichne ein Bild durchgehender "reziproker kultureller Entfremdung": "Ein Zusammenleben von Christen und Juden" ist für Lehrbuchautoren "offenbar nicht vorstellbar." (27, 30, 31) Die Stigmatisierung jüdischen Lebens stellen die Autoren anhand von drei Themenfeldern vor: "Ghetto", "gelber Fleck" sowie "Geldverleih und Wucher". [3]

Über die (früh)neuzeitliche Geschichte der Juden erfährt "man in den meisten Büchern nichts". Die wenigen Erwähnungen schreiben das Verfolgungsparadigma fort. (44) In der Zeit des Kaiserreichs sei man um die Darstellung jüdischer Geschichte bemüht, doch findet eine kontinuierliche "Überlagerung durch den Antisemitismus" statt. (49) So wird die Ausgrenzungsgeschichte fortgesetzt und zum Teil "komplett krude Logik" bei der Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus führe dazu, weder den Menschen zu erkennen, gegen den sich dieser richtete, noch "das notwendige Verständnis der Bedeutung der Rassentheorien für die weitere gesellschaftliche und politische Entwicklung des Antisemitismus" zu vermitteln. (61, 62) Auch bei der Beschäftigung mit jüdischem Leben in der Weimarer Republik würfen viele Schulbuchdarstellungen eher "Licht auf die Vorstellungskraft des Autors", als dass sie historische Phänomene erklärten. (78)

Die Betrachtung der Darstellung des Nationalsozialismus in Schulbüchern nimmt in der Analyse den größten Raum ein. Wiederholt belegen die Autoren, wie durch leichtfertige Formulierungen und fragwürdige Arbeitsaufträge stereotype Denkstrukturen und Einstellungen häufig verstärkt und nicht infrage gestellt werden. Die Geschichte der Juden nach 1945 wird schließlich "stiefmütterlich behandelt" (120): Die Tatsache, dass es jüdisches Leben in Deutschland wieder gibt, würde häufig übersehen und stattdessen die Aufmerksamkeit auf den Nahostkonflikt gelenkt. Damit endet in den meisten Schulbüchern die Geschichte der Juden in Deutschland und Europa spätestens 1945 - eine höchst problematische Perspektive.

Nach dieser ernüchternden Analyse thematisieren die Autoren im zweiten Teil des Buches häufig fehlende didaktische Grundsätze (125-133) und erläutern Herausforderungen bei der Verwendung des Begriffspaares "deutsch-jüdisch" (134-141), bevor sie sowohl das geläufige "Sündenbock-" als auch das verbreitete "Sozialneid-Theorem" als unzulängliche Narrativen entlarven (142-155). Abschließend wird noch auf methodische Fallstricke bei der Vermittlung von (jüdischer) Geschichte im Unterricht hingewiesen - allerdings (entgegen der Ausgangsdefinition) vor allem am Beispiel der Themenfelder Nationalsozialismus, Antisemitismus und Shoa. (156-181)

Die vorliegende Studie steht in einer längeren Tradition. Eine inhaltliche und teleologische Perspektivierung jüdischer Geschichte als Opfergeschichte wurde schon bei einer ersten bundesrepublikanischen Schulbuchuntersuchung 1963 bemängelt. Damals bemerkten die Autoren, dass die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes zwar in Unterrichtswerken erwähnt würden, doch "der Weg zu einem immanent verstandenen kontinuierlichen Bild jüdischer Geschichte sehr wohl verbaut sein kann durch wirtschafts- und sozialgeschichtliche Mißinterpretation sowie (...) durch christologische Vorstellungen und beispielsweise Renaissance- und Aufklärungsideologien". [4] Diese Beobachtung und zugleich Forderung nach Veränderung bleibt nach der Lektüre der vorliegenden Untersuchung erschreckend aktuell.

"Fragen an die jüdische Geschichte" verweist mit kompetenter Kritik vor allem auf Defizite und Probleme in aktuellen Schulbüchern. Der wenig fachkundige und nach der Lektüre womöglich verunsicherte Pädagoge wird hier aber kaum systematische Orientierungshilfe auf der Suche nach einer angemessenen Vermittlung der Geschichte der Juden im Unterricht finden. Ein ausführlicher Leitfaden mit praktischen Ansätzen zur integrierten Vermittlung jüdischer Themen (im ohnehin zeitlich knapp bemessenen) Geschichtsunterricht bleibt weiterhin didaktische Herausforderung und Desiderat der Fachliteratur. Die vorbildliche Analyse wird aber hoffentlich weitläufig wahrgenommen und dazu beitragen, "Unverstand, Unwissenheit und Gleichgültigkeit nicht auf der Ebene von Mitleid und moralischer Entrüstung, sondern in der Bereitschaft zu ernstem Studium und emphatischem Eindringen zu überwinden". [5]


Anmerkungen:

[1] S. Hagemann / R. Nathanson: Deutschland und Israel heute. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?, (Bertelsmann Stiftung) Blomberg 2015, 22 (https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_LW_Deutschland_und_Israel_heute_2015.pdf)

[2] "But perhaps the most striking and frightening aspect of the German flight from reality is the habit of treating facts as though they were mere opinions. (...) In fact, of course, it is a legacy of the Nazi regime." H. Arendt: The aftermath of Nazi Rule. Report from Germany, in: Contemporary 10 (1950), 442-353, hier 344.

[3] Schon zuvor haben sich die Autoren mit den Themenbereichen befasst. Siehe die Homepage der "AG Deutsch-Jüdische Geschichte" oder W. Geiger: Geld, Ghetto, Gelber Fleck. Ein kritischer Blick auf gängige Klischees von Juden im Mittelalter, in: Geschichte Lernen. Jüdische Geschichte 152 [Heftbetreuer: M. Liepach] (März 2013), 9-15.

[4] S. Robinsohn / Ch. Schatzker: Jüdische Geschichte in deutschen Geschichtsbüchern, Braunschweig 1963, 10f.

[5] Ebenda, 12.

Rezension über:

Martin Liepach / Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen (= Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts; Bd. 33), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014, 189 S., ISBN 978-3-7344-0020-9, EUR 19,80

Rezension von:
Gregor Pelger
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Gregor Pelger: Rezension von: Martin Liepach / Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de/2015/05/26079.html


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