In der verdienstvollen Reihe "Klio in Polen", mit der das Deutsche Historische Institut Warschau wichtige Werke der polnischen Geschichtswissenschaft in deutscher Übersetzung zugänglich macht, liegt nun Tomasz Kizwalters Studie zu Nation und Nationalismus in Polen vor, die im Original im Jahre 1999 erschienen ist. In ihrer kurzen Einführung begründet Ruth Leiserowitz die Auswahl der Studie damit, dass sie "in zahlreiche innerpolnische Debatten und Diskurse kenntnisreich einführt" und einen "wichtigen Beitrag zur vergleichenden Nationalismusforschung" (10) darstellt. Bereits an dieser Stelle sei allerdings, um falschen Erwartungen vorzubeugen, zweierlei signalisiert: Zum Ersten nimmt Kizwalter selbst keinen länderübergreifenden Vergleich vor, zum Zweiten ist seine Studie aufgrund ihres Gedankenreichtums zwar lesenswert, allerdings kaum als Einstiegslektüre anzusehen.
Im Auftaktkapitel zu Begriffen und Problemen macht Kizwalter deutlich, warum in den 1990er Jahren so viele Nationsforscher in Mittel- und Osteuropa den konzeptionellen Ansätzen Ernest Gellners, nicht aber Eric Hobsbawms folgten. Während der Nationalismus nach Hobsbawm als eine Art "social engineering" politischer und meinungsbildender Eliten erscheint (19), was frappierende Assoziationen an die Zeit vor 1989 weckt, steht Gellner für das Bestreben, im Nationalismus die "sozioökonomische und geschichtliche Bedingtheit eines oft als zeitlos und gleichsam natürlich empfundenen Phänomens" (22) zu erforschen. Damit wird nicht zwangsläufig einem Essentialismus das Wort geredet, vielmehr liegt der Schwerpunkt auf einer Kontextualisierung und Historisierung des Nationalismus.
Unter diesen Vorzeichen beginnt Kizwalter seine inhaltlichen Ausführungen mit der Epoche des Mittelalters. Dabei wendet er sich ausdrücklich gegen die These von der Entstehung europäischer Nationen im Mittelalter, wie sie etwa Benedykt Zientara im Auftaktband zu Klio in Polen vertreten hat. [1] Indem Kizwalter seinen Kollegen aus der Mediävistik mangelnde Quellenkritik und eine zu schmale Quellenbasis vorwirft sowie detailliert auf Inkonsistenzen in Begriffssprache und Argumentationslogik hinweist, wirkt dieses Kapitel zuweilen wie ein überlanger Rezensionsessay. Im Kapitel zur Frühen Neuzeit bringt er dagegen zentrale Voraussetzungen für die Entwicklung moderner Nationsvorstellungen in Polen zur Sprache. Kizwalter erläutert einprägsam die gesellschaftliche Bedeutung der Schlachta, denn nur diese schuf "innerhalb ihrer Gruppe Bindungen, die ganz Polen-Litauen umfassten, während Bürgertum und Bauernschaft jeweils Konglomerate verschiedener lokaler Gemeinschaften waren" (73). Verstärkt wurde diese Konstellation durch den Sarmatismus, der "Ideologie" der Schlachta im 17. Jahrhundert, die dem Adel eine andere ethnische Herkunft zuschrieb als dem einfachen Volk und die zugleich die sprachliche und kulturelle Polonisierung innerhalb des Adels beförderte.
In den folgenden Kapiteln wird die Leitfrage der Studie erkennbar: Wie viel von der Gedankenwelt des Sarmatismus und der Schlachta überlebte in den polnischen Nationsvorstellungen des 19. Jahrhunderts? Kizwalter bürstet in erfrischender Weise viele gängige historische Interpretationen gegen den Strich und stellt bevorzugt solche Persönlichkeiten und Ereignisse vor, die von der polnischen Geschichtswissenschaft lange Zeit als "reaktionär" oder marginal beurteilt wurden. Mit skeptischer Distanz zu den Vätern der Verfassung des 3. Mai 1791 und den Teilnehmern des Kościuszko-Aufstands 1794 ("zu Lebzeiten errangen sie zwar nur halbe Erfolge, aber sie nahmen die Nachwelt für sich ein", 135) verweist Kizwalter auf den verbreiteten "Pessimismus der Nachteilungszeit" (156), der konservative Haltungen begünstigt habe. So habe die monarchische Idee weiterhin große Zustimmung genossen und die Anpassung an die Teilungsmächte erleichtert. Vor allem in den östlichen Woiwodschaften hätten die Reformen der Aufklärungszeit als "Gefahr für die soziale Ordnung" gegolten (161), Sorge bereitete ein Übergreifen des "Jakobinismus" und des westlichen "Materialismus" (258) auf Polen, dafür waren slawophile Ideen, darunter auch die einer polnisch-russischen Verständigung, virulent.
Viel Raum widmet Kizwalter den Ansichten von Konservativen und Querdenkern wie Kajetan Koźmian, Józef Kalasanty Szaniawski oder Henryk Rzewuski. Für die Kritik an der Schlachta und ihrem sarmatischen Souveränitätsverständnis, wonach "weniger die Unabhängigkeit von anderen Staaten als vielmehr die Bewahrung freiheitlicher Institutionen und ständischer Privilegien" bedeutsam gewesen sei (185), steht in erster Linie Stanisław Staszic. Dagegen werden "klassische" Heroen der polnischen Nationalbewegung wie Joachim Lelewel, Adam Mickiewicz oder Karol Libelt nur knapp oder gar nicht erwähnt. Zusammenfassend konstatiert Kizwalter trotz der Einflüsse Napoleons und des Novemberaufstands ein langes Nachwirken sarmatischer Haltungen und Mentalitäten. Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei der "Adel nicht mehr als Essenz des Polentums angesehen" worden (327).
Diese neue Entwicklungsphase polnischer Nationsvorstellungen wird kürzer dargestellt. Kizwalter erörtert Jan Ludwik Popławskis Versuche, "die Bauernkultur ernsthaft als Gegenmodell zur 'Adelsnation' darzustellen" (335), und konstatiert anhand der Schriften Roman Dmowskis, dass Ethnizität oder "Rasse" im Denken der frühen Nationaldemokratie noch keine entscheidende Rolle gespielt hätte. Typisch gewesen sei vielmehr der stete Wechsel zwischen ethnischen und historischen Begründungen der polnischen Nation. Vor diesem Hintergrund kommt Kizwalter zu dem Schluss, dass der Antisemitismus zwar bei den Nationaldemokraten bedeutsam, aber insgesamt "kein Schlüsselfaktor für die Entstehung des polnischen Nationalismus" (379) gewesen sei. Diese These ist angesichts der sich seit Jahren dynamisch entwickelnden Forschungen zu den polnisch-jüdischen Beziehungen mit Sicherheit nicht das letzte Wort in der Debatte. Ebenfalls nur in wenigen Sätzen ausgeführt wird die These, dass auch der Katholizismus keine zentrale Bedeutung für den polnischen Nationalismus gehabt habe. Hier zeigt sich, dass das methodische Vorgehen der Studie Einschränkungen mit sich bringt: Ganz in der Tradition der politischen Ideengeschichte kommen ausschließlich Publizisten und Literaten zu Wort, sodass Nationsvorstellungen als ein Elitendiskurs erscheinen, der ohne näheren Bezug zu politischen, gesellschaftlichen oder religiösen Praktiken auskommt. Die Studie schließt mit der Wende zum 20. Jahrhundert. Diese Zäsur begründet der Verfasser damit, dass nun die Nationsvorstellungen "eindeutig modernen Charakter" besessen hätten (385). Der Titel der Studie "Über die Modernität der Nation" signalisiert demnach den Zielpunkt einer Entwicklung. Was daraus zu folgern ist, wird aber nicht klar, denn Kizwalter erläutert das von ihm verwendete Konzept von Moderne oder Modernität nicht.
Mit seiner Leitfrage und seinem inhaltlichen Schwerpunkt gibt Kizwalter aber dennoch ein geschichtspolitisches Statement ab: Es geht um die Neubewertung und Rehabilitierung des Konservatismus, der Schlachta und des Sarmatismus in der polnischen Geschichte. Dies ist im Sinne pluralistischer Forschung legitim, und Kizwalter kann eine ganze Reihe von originellen Zitaten und Gedankengängen präsentieren. Geschrieben ist die Studie in erster Linie für ein polnisches wissenschaftliches Publikum; sie setzt viel Vorwissen zur Geschichte und literarischen Kultur Polens voraus. Diese grundsätzliche Anlage der Studie bleibt auch nach der sehr guten Übersetzung von Bernhard Hartmann und der Einfügung redaktioneller Anmerkungen bestehen.
Anmerkung:
[1]: Benedykt Zientara: Frühzeit der europäischen Nationen. Die Entstehung von Nationalbewußtsein im nachkarolingischen Europa, Osnabrück 1997.
Tomasz Kizwalter: Über die Modernität der Nation. Der Fall Polen. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann. Mit einer Einführung von Ruth Leiserowitz (= Klio in Polen; 16), Osnabrück: fibre Verlag 2013, 422 S., ISBN 978-3-938400-91-3, EUR 39,80
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