Wer sich mit der Geschichte der Deutschen in Afrika im 19. Jahrhundert befasst, stößt mit hoher Wahrscheinlichkeit früher oder später auf Issak Eduard Schnitzer (1840-1892). Das Leben und Wirken des Arztes und universalgelehrten Afrikaforschers, der besser bekannt als Emin Pascha aufgrund seiner Verwaltungstätigkeit in osmanischen Diensten zunächst auf dem Balkan und später besonders als Gouverneur im Sudan und als vermeidlicher deutscher Kolonisator in Ostafrika mythische Gestalt annahm, interessiert seit über 120 Jahren Generationen von Lesern der zahlreich über ihn erschienenen, unterhaltenden wie wissenschaftlichen Literatur. Mit der Studie von Christian Kirchen, die auf dessen Bayreuther Dissertation von 2012 basiert, liegt nun eine erste systematisch-kritische Biografie Schnitzers / Emins vor.
Wer sich bisher über Leben und Wirken Eduard Schnitzers informieren wollte, hatte überwiegend auf ältere Darstellungen zurückzugreifen, die den noch zu Lebzeiten entstandenen ambivalenten Mythos über den heute außerhalb akademischer Kontexte weitgehend in Vergessenheit geratenen Emin Pascha unhinterfragt reproduzieren. Die Ambivalenz des Mythos äußert sich in gegensätzlichen Stilisierungen Emins entweder als Held oder als Versager. Bereits ihm wohlgesonnene (vornehmlich deutsche) zeitgenössische Autoren inszenierten Emin, der zwischen 1878 und 1889 den Posten des Gouverneurs über die sudanesische Provinz Äquatoria bekleidete, als europäisch-abendländischen Kolonialhelden, der von der Außenwelt abgeschnitten und auf sich allein gestellt Widerstand gegen überlegene Truppen der islamisch-fundamentalistischen Mahdi-Bewegung (1881-1899) leistete. Des Weiteren habe Emin wie ein König über Äquatoria regiert und unermessliche Reichtümer an Elfenbein angehäuft. Seine (häufig britischen) Kritiker hingegen konstruierten ein entstellendes Narrativ, das besonders Emins Qualifikationen, Verhaltensweisen sowie dessen Charaktereigenschaften und politisches Urteilsvermögen bis ins Absurde und Boshafte hinein negativ überzeichnete.
Diese bis heute forschungsleitende extrem polarisierte und zugespitzte Wahrnehmung Emins veranlasst Kirchen zu der grundlegenden Frage, wer eigentlich war Eduard Schnitzer. Kirchen spürt mit großer Sachkenntnis dem Mensch hinter dem Mythos nach und beantwortet die Frage in seiner methodisch überzeugenden, beeindruckend aufwendig recherchierten und quellennah geschriebenen Biografie leicht lesbar, plausibel argumentierend und differenziert urteilend. Auf diese Weise entsteht ein entmystifiziertes, rationales und facettenreiches Bild einer abgründigen Persönlichkeit.
Die 335 Seiten umfassende Darstellung ist in zwei Hauptteile untergliedert. Im ersten Teil entwickelt Kirchen - den aktuellen Forschungsstand der Biografik reflektierend - materialreich eine evidente Version der Lebensgeschichte von Eduard Schnitzer. Die Studie basiert auf der Auswertung der einschlägigen Forschungsliteratur sowie auf gedrucktem und ungedrucktem Quellenmaterial, wobei die Quellensituation zu einzelnen Lebensabschnitten Emins quantitativ und qualitativ stark differiert. Kirchen löst dieses Problem souverän, indem er auf Lücken in der Überlieferung hinweist, Hypothesen zu denkbaren Entwicklungen diskutiert und dabei auf Spekulationen verzichtet. Er stützt seine Argumentation auf Schnitzers weit verstreut überlieferten Nachlass. Hier sind besonders dessen post mortem auch im Druck erschienenen Tagebücher und unveröffentlichten persönlichen Aufzeichnungen von Bedeutung. Neben verschiedenen Nachlässen und Memoiren von Weggefährten und Zeitgenossen Emins wertet Kirchen zudem Aktenbestände verschiedener behördlicher Archive in Deutschland, Polen, England, Belgien, Italien, Ägypten, Sudan, Türkei, Tansania und Sansibar aus. Presse- und Zeitschriftenartikel runden die Quellenbasis ab.
Im zweiten Teil unternimmt Kirchen "Annäherungsversuche an eine schillernde Persönlichkeit" (185), indem er das bisher als gesichert geltende Wissen über Emin aus unterschiedlichen Perspektiven mit seinen Forschungsergebnissen konfrontiert. Er interessiert sich besonders für das "Nachleben" Schnitzers, für die Emin Rezeption in Deutschland und in Afrika. Ausführlich würdigt er in diesem Zusammenhang auch das bisher von der Historiografie kaum berücksichtigte wissenschaftliche Gesamtwerk Schnitzers und eröffnet so neue Perspektiven auf dessen Leben und Wirken. Auf diese Weise wird nicht nur die Persönlichkeit Emins vom Mythos gelöst, sondern zugleich versucht, Emins Ort in der Geschichte zu bestimmen.
Wer also war Emin Pascha? Erzählt wird die Geschichte des im Privatleben gescheiterten Eduard Schnitzer. Aufgrund seines ohne Staatsexamen abgeschlossenen Medizinstudiums sei der junge Schnitzer 1864 aus Schlesien auf den Balkan "geflohen" (38) und dort als Amts- und Hausarzt bis 1874 in osmanische Dienste getreten. Offensichtlich ging Schnitzer, der seit 1872 als Emin auftrat und sich als Türke ausgab, eine Liebschaft mit der Ehefrau seines Dienstherrn ein, die er nach dem Tod ihres Mannes nach Schlesien begleitet. Die wiederholt unterstellte Ehe mit Emilie Leitschaft ist Emin nicht eingegangen, wie Kirchen nachweist (61).
Emin bricht mit seiner Familie und Emilie und "flieht" 1875 ein weiteres Mal ins Osmanische Reich, "um einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen" (73). Bereits in seiner neuen Position als Amtsarzt für die sudanesische Provinz Äquatoria nimmt Emin Aufgaben eines politischen Beamten für die anglo-ägyptische Kolonialverwaltung wahr. Im Juli 1878 bekommt Emin die Gouverneursverantwortung über die Provinz übertragen. Über seine Eignung und Verwaltungspraxis gehen die Meinungen in der Literatur weit auseinander. Kirchen zeichnet ein differenziertes Bild von Emins Gouvernement. Er beschreibt ihn als besonnen und keineswegs autokratisch agierenden, allerdings auch paternalistisch und sozialdarwinistisch denkenden Kolonialbeamten mit hervorragenden analytischen Fähigkeiten, der sich große Verdiente um die Entwicklungs- und Infrastrukturpolitik (Herstellung von Versorgungssicherheit) sowie um die Eindämmung des Sklavenhandels in Äquatoria erworben habe (82).
Als Krisenmanager während der Mahdi-Erhebung, die Äquatoria 1884 erreichte und seine Handlungsfreiheit zunehmend einschränkte, trat Emin weniger souverän und glücklich, um nicht zu sagen lethargisch auf (107). Er verlor spürbar an Autorität und Rückhalt und zog sich in innere Immigration zurück (108). Er konzentrierte sich fortan auf seine wissenschaftlichen Arbeiten als Ornithologe, Zoologe und Geograf. Zu schwach und unerfahren um wirksamen militärischen Widerstand zu leisten, zogen sich Emin und seine Begleiter schließlich in den Süden der Provinz zurück und galten in Europa lange Zeit als verschollen. Berichte Forschungsreisender weckten reges öffentliches Interesse in England und Deutschland. Nicht zufällig entstand der Emin-Mythos, in welchem er zum deutschen Kolonialheld avancierte, im Wesentlichen in dieser Zeit. Emin-Rettungskomitees wurden gegründet (117), Entsatz-Expeditionen entsendet. Ein kolonialpropagandistisch inszenierter Wettlauf um die Befreiung Emins, eigentlich um die Sicherung von Einflusssphären in der Region, zwischen England und dem Deutschen Reich begann (202). Schließlich wurde Emin im April 1888 gegen seinen Willen im Auftrag britischer kolonialer Kreise von Henry Morton Stanley "befreit" (114). Emin aber wollte Afrika nicht verlassen (132). Im Sommer erhob sich ein Teil seiner Offiziere, die ihn für die Missstände in Äquatoria verantwortlich machten, und erklärten den nun unter Hausarrest Stehenden für abgesetzt (124). Erst im Februar 1889 traf Emin wieder im Lager der Expedition Stanley ein.
In England und dem Deutschen Reich erreichte das öffentliche Interesse an Emin derweil einen Höhepunkt (205). Wie selbstverständlich ging man in England davon aus, dass er nach seiner Rettung aus Dankbarkeit in den Dienst der britischen Krone eintreten werde (143). Doch es kam anders. Im März 1889 trat er als Gouverneur zurück und in deutsche Dienste ein. Er übernahm 1890 die Leitung über das zivile Personal der "Seen-Expedition", die weitere Teile Afrikas für die deutsche Fahne in Besitz nehmen sollte (142). Der eigenmächtig und in Unkenntnis des am 1. Juli abgeschlossenen Helgoland-Sansibar-Vertrages agierende, inzwischen imperialistisch radikalisierte (225), Emin Pascha zog sich den Unmut von Reichkommissar Wissmann zu und wurde kaum ein Jahr im Amt zurückbeordert. Emin widersetzte sich expedierte scheinbar ziel- und ruhelos weiter durch das Kongo-Gebiet. Die bis heute tradierte Behauptung, dass Emin sich dort ein Königreich schaffen wollte, kann Kirchen widerlegen (171). Welche tieferen Absichten Emin in dieser letzten Phase seines Lebens leiteten, muss dagegen weiterhin offen bleiben.
Epidemien, schlechtes Wetter und Versorgungsengpässe setzen der Expedition schwer zu. Sklavenhändler lockten den völlig entkräfteten Emin im August 1892 in einen Hinterhalt und ermordeten ihn und seine Begleiter. Vermutlich ein Racheakt (174). Emin, der weder zum Kolonialheld taugt, noch zum Anti-Held, geriet bald nach seinem Tod in Vergessenheit (202). Aus Kirchens Argumentation kann geschlussfolgert werden, dass sich Schnitzer als Ornithologe, Zoologe und Geograf bedeutendere Verdienste erworben hat (217/18), als Emin Pascha als Kolonialbeamter und Eroberer.
Kirchen ist es bravurös gelungen, den Mythos zu dekonstruieren und den Menschen Eduard Schnitzer in seiner komplexen Persönlichkeitsstruktur anschaulich vorzustellen. Das Buch ist ein großer Wurf, ein Standardwerk, das mit Gewinn gelesen werden kann und zukünftig auch gelesen werden muss.
Christian Kirchen: Emin Pascha. Arzt -Abenteurer-Afrikaforscher, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 343 S., 64 s/w-Abb., 5 Ktn., ISBN 978-3-506-77850-5, EUR 39,90
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