In den vergangenen Jahren haben sich eine ganze Reihe von Studien und Sammelbänden mit der Geschichte französischer Bildungsinstitutionen im Nahen Osten befasst. [1] Gleichzeitig finden in jüngster Zeit die nach dem Ersten Weltkrieg errichteten Völkerbundmandate verstärkte Aufmerksamkeit. [2] In diesen Forschungskontexten ist auch Esther Möllers Arbeit zu französischen Schulen im Libanon zwischen 1909 und 1943 zu verorten, die auf ihrer 2011 an der Jacobs University Bremen eingereichten Dissertation beruht. Die von ihr untersuchten Schulen begreift sie als "Orte der Zivilisierungsmission", denn diese wie andere Bildungseinrichtungen galten als "besonders wirksame Stätten und Vehikel" des "zivilisatorischen Sendungsanspruchs von Frankreich" (14). Die koloniale Legitimationsideologie der mission civilisatrice fasst die Autorin überzeugend als "Dachkonzept [...], das in der Interaktion der französischen Regierung mit der Gesellschaft entstanden ist und dessen sich die Führung der Republik dann bedient[e]" (52). Im Verlauf der Arbeit geht es ihr darum, genau auszuloten, wie die jeweiligen Akteure diesen "leeren Signifikanten" (43) auf unterschiedliche Weise inhaltlich füllten, wie sich dies über die Jahre hinweg veränderte und inwiefern die jeweiligen Konzeptionen miteinander konvergierten oder divergierten.
Eine ausführliche und umsichtig argumentierende Einleitung verortet die Studie versiert im weiteren theoretischen Rahmen der Postcolonial Studies. Das Buch versteht sich als Verflechtungsgeschichte und konzentriert sich vor allem auf die Situation vor Ort. Im Mittelpunkt steht die kosmopolitische sowie religiös und soziokulturell vielseitige Metropole Beirut, die schon zeitgenössisch als "Stadt der Schulen" (123) charakterisiert wurde. Im Spannungsverhältnis unterschiedlicher französischer Institutionen und Organisationen auf der einen, lokaler Interessen und nationaler Ansprüche im libanesischen Kontext auf der anderen Seite liegt der Fokus der Studie auf den dynamischen Zwischenräumen sowie den dort ausschlaggebenden Handelnden: den mit Kultur- und Bildungspolitik betrauten Akteuren des französischen Außenministeriums bzw. Hochkommissariats, den in den Diensten der verschiedenen französischen Institutionen stehenden Lehrerinnen und Lehrern und nicht zuletzt der libanesische Bevölkerung mit ihren unterschiedlichen Erwartungen und Interessen. Neben der diskursiven Verhandlung und Ausgestaltung von "Zivilisierungsmission" geht es Möller immer auch um die konkrete soziale Praxis.
Nach einem ersten Kapitel, welche die mission civilisatrice und den Platz der Schulpolitik innerhalb dieser umreißt, folgt die Argumentation in sechs weiteren Kapiteln einer chronologischen Gliederung, die den Zeitraum vom ausgehenden Osmanischen Reich bis zum Ende des französischen Völkerbundmandats umfasst. Ein Ausblick verweist auf die post-koloniale Periode nach der Unabhängigkeit. In den Unterkapiteln werden jeweils Themen behandelt, die im betreffenden Zeitabschnitt besonders virulent waren. Gestützt auf eine imposante Quellenbasis aus einer Vielzahl französischer wie libanesischer Archive geht es hier etwa um die Einbettung der Schulen im Wechselverhältnis von metropolitanen Ansprüchen und lokalen Kontexten, um konkrete Unterrichtsinhalte und -materialien sowie um Sprachfragen zwischen frankophonem Sendungsbewusstsein und der zunehmenden Bedeutung von Arabischunterricht. Letzteres spannt wiederum den Bogen zur Rolle der Schulen im Kontext libanesischer Traditionen und vielfältiger nationalistischer Ambitionen.
Im Vergleich zu bereits vorliegenden Arbeiten, die sich vor allem für die Bildungsinstitutionen katholischer Missionare oder die exemplarische Geschichte einzelner Schulen interessieren, weitet Möller den Blick, indem sie neben den bedeutsamen christlichen auch den jüdischen Schulen der 1860 gegründeten und in Paris ansässigen Alliance Israélite Universelle sowie vor allem dem Bildungswerk der seit der Jahrhundertwende unter streng laizistischen Vorzeichen aktiven Mission Laïque Française großen Raum gibt. Dadurch kann sie die ganze Bandbreite französischer Schulpolitik aufzeigen. Darüber hinaus geht es der Autorin aber auch um die unterschiedlichen Interessen und Reaktionen der libanesischen Bevölkerung. Vor dem Hintergrund einer lang andauernden und von den verschiedenen Gruppen unterschiedlich wahrgenommenen französischen Präsenz in der Region wurde die "Idee der französischen Zivilisierungsmission von einigen Libanesen übernommen, von anderen dagegen rigoros abgelehnt und von wieder anderen nur zu bestimmten Zwecken selektiv angeeignet und adaptiert" (14). Überzeugend betont die Autorin immer wieder die Bedeutung kultureller wie sozioökonomischer Interessen bei diesen Aneignungsprozessen. So wird etwa deutlich, wie insbesondere die Angehörigen jener sozialen Elite, deren Kinder die europäischen bzw. französischen Schulen vornehmlich frequentierten, zunehmend nicht bloß in einer "passiven Empfängerrolle, sondern dezidiert als aktive Mitgestalter[in] des Angebots der Bildungseinrichtungen" auftraten (28). Ohne die asymmetrischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus den Augen zu verlieren, wird so doch immer wieder die Handlungsmacht der Akteure vor Ort sichtbar.
Zudem bemüht sich die Studie darum, wenn auch eher am Rande, das Verhältnis zu anderen europäischen Bildungseinrichtungen in Beirut zu betrachten sowie die französischen Positionen gegenüber der Politik anderer Mandatsmächte einzuordnen. So verfolgte die britische Mandatsverwaltung im Irak beispielsweise eine weitaus pragmatischere Sprachpolitik als die französische in Syrien und im Libanon. Hier wird einmal mehr deutlich, dass dieser Aspekt eine größere Bedeutung für die französische als für die britische Zivilisierungsmission hatte.
Esther Möller gelingt es damit über weite Strecken der Arbeit anschaulich, ihre theoretischen Prämissen in die forscherische Praxis umzusetzen. Durch ihre Konzentration auf das konkrete Geschehen vor Ort geraten jedoch andere mögliche Aspekte einer Verflechtungsgeschichte notgedrungen stärker an den Rand. So hätten etwa die Verbindungen und Überschneidungen, aber auch Unterschiede von imperialen Einflussversuchen im Vergleich zu Diskursen, Praktiken und Entwicklungen in der Metropole noch stärker Beachtung finden können. Zwar wird erwähnt, dass der Anspruch "Zivilisierung" durch Bildung auch schon bei der Schul- und Regionalpolitik des republikanischen Frankreichs am Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte. Auch wird herausgearbeitet, dass sich der tiefe Gegensatz zwischen Klerikern und Anhängern des Laizismus auch im Feld der Kolonial- und Imperialpolitik niederschlug, zuweilen aber auch weit weniger wirkmächtig war als im "Mutterland". Dennoch wäre hier noch Raum für ausführlichere Betrachtungen zu Transferprozessen und Wechselwirkungen gewesen.
Insgesamt bietet diese dichte, umsichtig und differenziert argumentierende Studie vielschichtige Einblicke in das französische Schulwesen im Libanon und unterstreicht nochmals die Bandbreite, mit der das Abstraktum "Zivilisierungsmission" von verschiedenen Akteuren gefüllt und in konkreten Kontexten des französischen Imperiums aufgenommen wurde.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Patrick Cabanel (éd.): Une France en Méditerranée. Écoles, langue et culture françaises, XIXe-XXe siècles, Paris 2006; Jérôme Bocquet: Missionnaires français en terre d'islam, Damas 1860-1914, Paris 2005; ders.: La France, l'Église et le Baas. Un siècle de présence française en Syrie, de 1918 à nos jours, Paris 2008; Jennifer Dueck: The Claims of Culture at Empire's End. Syria and Lebanon under French Rule, Oxford 2010.
[2] Z.B. Susan Pedersen: The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire, Oxford 2015.
Esther Möller: Orte der Zivilisierungsmission. Französische Schulen im Libanon 1909-1943 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Bd. 233), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 448 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-10132-2, EUR 79,99
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