Schulbücher sind vieldeutige Objekte. Der Politik- und Erziehungswissenschaftler Gerd Stein hat ihre dreifache Funktion als "Informatorium", "Pädagogicum" und "Politicum" beschrieben. [1] Doch nicht nur das Schulbuch selbst, auch die Verständigung darüber ist ein Politikum. Insbesondere Geschichts- und Geografiebücher standen seit der Zwischenkriegszeit in Europa in der Diskussion. Ihre Inhalte, so argumentierten zunächst französische Geschichtslehrer, konnten Kriege oder auch Versöhnung befördern. [2]
Romain Faure stellt die internationalen Verhandlungen über Schulbuchinhalte nach dem Zweiten Weltkrieg ins Zentrum seiner Studie. Während die deutsch-französischen Schulbuchgespräche oder die der Association Norden weithin bekannte Arenen des erfolgreichen Kulturtransfers bilden, finden sich darunter auch viele gescheiterte Versuche. Knapp 90 bilaterale oder internationale Schulbuchbeziehungen, die zu mindestens einem Treffen führten, kann der Autor aufschlüsseln. Diese Verhandlungen begreift er als deutlich vom Kontext des Kalten Krieges mitstrukturiert.
Der Begriff Schulbuchrevision umfasst zweierlei: die Kritik sowie die Korrektur und Erweiterung von Schulbüchern. Die Studie privilegiert einen institutionengeschichtlichen Ansatz. So erscheinen im Netzwerk keine Personen-, sondern Ländernamen und internationale Akteure wie der Europarat und die UNESCO. Zwischen ihnen zirkuliert ein spezifisches Wissen über Schulbuchrevision, ihre Inhalte und Methoden. Ziel des Autors ist es, dieses Netzwerk als "Revisionsfeld" (28) zu beschreiben. Ergänzend rekonstruiert Romain Faure beispielhaft biografische Parallelen prominenter Akteure und führt das Argument des Generationenwechsels auch an, um die Abnahme des Austauschs ab Mitte der 1960er-Jahre zu erklären. Die als Mittler beschriebenen Akteure der Schulbuchrevision waren zumeist keine Berufspolitiker. Wie der Belgier André Puttemans waren sie Verbandspolitiker in ihrem Land und von der Erfahrung beider Weltkriege oder zumindest des Zweiten Weltkriegs stark geprägt. Sie waren keine prominenten Historiker, sondern arbeiteten zwischen Bildungssektor und Geschichtswissenschaft. Das Handeln und die Initiative Einzelner hatte im Feld der Schulbuchrevision hohen Einfluss, was in der Studie immer wieder anklingt, angesichts der entpersonalisierten Netzwerkstruktur aber schnell aus dem Blick gerät.
Die Gliederung der Studie orientiert sich sowohl an der Chronologie - es gibt vier Phasen des intensiven und schließlich zersplitterten Austauschs - als auch an der räumlichen Dimension des Netzwerkes. Obwohl auf Grund der gesichteten Quellen fundierte Aussagen nur zu Westeuropa gemacht werden können, vollzieht der Autor durchaus auch die osteuropäische Entwicklung und die Vernetzung zwischen den Akteuren in Ost- und Westeuropa und darüber hinaus nach.
Zwischen 1945 und 1952 bildete sich ein "transrelationaler Zirkulations- und Diskussionsraum der Revisionserfahrungen und -prinzipien" (103), der auf vier internationalen Konferenzen entstand. Die UNESCO und das 1951 gegründete Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig (später Georg-Eckert-Institut) koordinierten diese Treffen. Auf der ersten Konferenz der UNESCO in Brüssel 1950, an der Vertreter aus über 30 Ländern teilnahmen, formulierten die Arbeitsgruppen vier Grundsätze der Schulbuchrevision: "Reziprozität" (124), "Vorrang nichtstaatlicher Organisationen", "Konzentration auf Fragen der Nationalgeschichte" (125) und "Pluralisierung der nationalen Perspektiven" (126). Der Diskurs war fachwissenschaftlich geprägt und klammerte bis in die 1980er-Jahre zumindest in Westeuropa Fragen der Didaktik weitgehend aus.
Ab 1953 wurde der Europarat ein wichtiger Akteur im Revisionsfeld. Drei neue Plattformen unterstützten den wachsenden Vernetzungsprozess. Die Konferenzen des Europarates hatten eine inhaltliche Ausrichtung auf Europa im Schulbuch, mit der sie zum Teil in Konflikt mit dem neuen East-West Major Project der UNESCO standen, in dem der Eurozentrismus der Geschichtsbücher kritisiert wurde. Die Internationale Kommission für den Geschichtsunterricht ("Commission Puttemans") und das Internationale Jahrbuch für Geschichtsunterricht bildeten neue Diskursarenen. Im verstärkten Dialog über den Eisernen Vorhang hinweg zeigten sich Deutungskonflikte. Romain Faure illustriert sie am viel debattierten Thema des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges.
Dieser Blütezeit der Revision stellt der Autor zwei Phasen entgegen, die von Stagnation und Zersplitterung in Westeuropa geprägt waren, wofür mehrere Ursachen nachvollziehbar dargelegt werden. Insbesondere das Argument der methodischen Neuausrichtung der Schulbuchrevision, die zum Rückgang internationaler Kooperation führte, überzeugt. Fanden sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg noch Feindbilder über andere Völker oder Gesellschaften in den Geschichtsbüchern, sind es in den 1980er-Jahren längst subtile Konstruktionen des Eigenen über die Beschreibung des Anderen. Dem postmodernen Geschichtsverständnis folgend, sahen Schulbuchforscher die Aufgabe der Forschung in der Dekonstruktion der identitätsstiftenden Darstellungen in eigenen Schulbüchern (274f.).
Währenddessen verlagerten sich die Aktivitäten der Schulbuchrevision auf den Ost-West-Dialog. Die Internationalen Symposien zu aktuellen Fragen des Geschichtsunterrichts bildeten ab Mitte der 1960er-Jahre eine erste und wichtige Plattform für osteuropäische Revisionsdiskussionen und Aktivitäten. Der europäische Revisionsdiskurs war zerklüftet, dennoch blieb das bundesdeutsche Verständnis von Revisionsarbeit ein Modell, und etwa die tschechoslowakische Delegation bezog sich bei den Internationalen Symposien darauf. Erstaunlich ist, wie wenig vernetzt die Revisionsarbeit selbst da blieb, wo die meisten Aktivitäten zu verzeichnen waren: Die Shoa im Schulbuch war entscheidender Inhalt zahlreicher bilateraler Schulbuchgespräche in den 1980er-Jahren. Annäherungen zwischen den Positionen gab es aber zunächst nicht, häufig fehlte es an bloßer Kenntnisnahme. Auch innerhalb des Ostblocks kamen die Bemühungen zum Erliegen; eine andere Erklärung als die veränderte politische Lage infolge der Breschnew-Doktrin kann der Autor aus den von ihm zu Rate gezogenen DDR-Quellen nicht geben.
Im Epilog beschreibt Romain Faure die Weiterentwicklung der internationalen Schulbuchrevision in Europa nach 1989/90 mit dem Paradigma gemeinsamer Geschichtsbücher. Auch wenn das von Frédéric Delouche herausgegebene Europäische Geschichtsbuch nicht von einem Mittler aus dem betreffenden Feld initiiert wurde, markierte sein Erscheinen 1992 in mehreren Sprachen eine Neuorientierung. Das Deutsch-Französische Geschichtsbuch, dessen erster Band "Europa und die Welt seit 1945" im Jahr 2006 erschien, als Ergebnis einer Trendwende und vor allem als kulturpolitische Initiative zu beschreiben, die auf Erfahrungen von sechzig Jahren Schulbuchrevision zurückging, ist zutreffend und erhellend. Romain Faure hat ein schlüssig gegliedertes Überblickswerk zur Schulbuchrevision im Europa des Kalten Krieges vorgelegt und um eine tabellarische Aufstellung aller recherchierten Gespräche ergänzt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Gerd Stein: Schulbücher in berufsfeldbezogener Lehrerbildung und pädagogischer Praxis, in: Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis, hg. v. Leo Roth, München 22001, 839-847.
[2] Vgl. Rainer Bendick: Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche seit den 1920er Jahren, in: Interkulturalität und wissenschaftliche Kanonbildung. Frankreich als Forschungsgegenstand einer interkulturellen Kulturwissenschaft, hgg. v. Dorothee Röseberg / Heinz Thoma / Gesine Müller / Anke Wortmann, Berlin 2008, 435-460.
Romain Faure: Netzwerke der Kulturdiplomatie. Die internationale Schulbuchrevision in Europa, 1945-1989 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 36), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, 362 S., 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-036214-5, EUR 49,95
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