Der Titel suggeriert eine populäre Darstellung, die dieses Buch jedoch nicht liefert. Wer es mit Gewinn lesen will, muss über fortgeschrittene Kenntnisse in Religionswissenschaft sowie in osteuropäischer Geschichte, Geografie und Volkskunde verfügen. Er oder sie muss bereits wissen, wer die Baškiren und čeremissen sind, wo die Kama und die Vjatka fließen, wo Šklov und Beloozero liegen. Wo das Buch vom Judentum handelt, muss er zwischen sephardischen und aschkenasischen Juden unterscheiden können und wissen, was Cheder, Mikwe, Jeschiwah und Pilpul sind. Bei der Behandlung des Islam muss ihm bekannt sein, was die Umma und was ein Dhikr ist und wo der Zamzam-Brunnen liegt. Wenn er auf das Wort "Madaris" stößt, sollte er schon wissen, dass es sich um den Plural von "Madrasa" handelt, wobei ihm zu wünschen ist, dass er dann nicht auch noch herausfinden muss, was in einer Madrasa geschieht. Selbst beim Christentum muss er so beschlagen sein, dass er weiß, was der Raskol, Adorantismus, die Augustana und die pädagogischen Prinzipien August Hermann Franckes sind. Das Buch verfügt zwar über ein Glossar, in dem aber alle diese und noch viele andere Begriffe nicht vorkommen, während die, die dort aufgeführt werden, oft recht oberflächlich erklärt sind. Übrigens ist auch das Personenregister bei Weitem nicht vollständig.
Eher schon kann man vom Untertitel auf den Inhalt schließen. Der unbestimmte Artikel ist Programm. Wir haben es mit einer ausgesprochen subjektiven Darstellung zu tun. Die Intention ließe sich dahin zusammenfassen, dass hier ein Osteuropahistoriker die Gedanken vorlegt, die ihm im Lauf der Zeit zum Thema der Religion in seinem Fachgebiet gekommen sind. Die Darstellung legt auch weder den gängigen engen noch den weiten Begriff von "Osteuropa" zugrunde, denn sie beschränkt sich nicht auf Russland, Weißrussland und die Ukraine, sondern bezieht auch Polen ein, nicht aber Böhmen, Ungarn, Rumänien usw. Sie soll außerdem erklärtermaßen keine Kirchengeschichte, sondern eine Religionsgeschichte sein, das heißt sich vor allem auf das persönliche religiöse Erleben der Bewohner dieser Region beziehen. Denn die religiöse Vielfalt war und ist hier nach Meinung von Christoph Schmidt wesentlich größer als in Westeuropa, und dies gelte ebenso für die Einwirkungen der verschiedenen Religionen aufeinander. All das sei von der Historiografie im 20. Jahrhundert aber sträflich vernachlässigt worden. Umso erstaunlicher kann es dann erscheinen, dass der Verfasser bei seinen Lesern so große Vorkenntnisse voraussetzt. Das gilt zumindest im Fall von Christentum, Judentum und Islam, um deren religiöse Eigenart und Organisationsformen man schon wissen sollte, während Schmidt beim Buddhismus und beim Schamanismus etwas mehr an Grundkenntnissen vermittelt.
Dem Verfasser selbst kann man Kenntnisreichtum auf seinem Gebiet nicht absprechen. Er besitzt ein Interesse an und ein Verständnis für Religion, das jüngeren Historikern heute oft schon abgeht. Seine Belesenheit scheint im Text immer wieder durch, auch wenn er sich eigentlich nie auf eine Diskussion mit anderen Forschungsmeinungen einlässt. Im Vordergrund stehen seine eigenen Urteile, die einerseits von seiner Kreativität zeugen, die er aber sehr schnell und apodiktisch fällt und die ihm der Leser - wenn er nicht ein absoluter Experte auf dem Gebiet ist - nur glauben kann. So nimmt Schmidt etwa die Existenz einer "Urreligion" an, der er bestimmte Eigenschaften zuordnet, die nach seiner Meinung in allen Religionen auftauchen: Erleben des Kosmos als eines Ganzen, Kapitalismuskritik, Gegensatz zwischen individueller Religion und Kirche, Reinheitsgebote als Dämonenschutz, Leichenschmaus zur Bekräftigung der Gemeinschaft, Glaube an das Leben nach dem Tod (259).
Schmidt ist sich der Problematik mit den Quellen, wenn es um persönliches religiöses Erleben geht, durchaus bewusst. Aber er gleicht dies aus durch den Anspruch, Religiosität und ihre Motivation psychologisch durchschauen zu können, wenn man nur ihre äußere Erscheinung in den Blick nimmt. Das lässt ihn oft überraschende Parallelen zwischen religiösen Gruppen ziehen, etwa zwischen orthodoxen Altgläubigen und jüdischen Chassidim, die sich beide von amtskirchlicher Enge und aufklärerischen Tendenzen ab- und Tradition und Gefühl zugewandt hätten. Ähnlichkeiten sieht Schmidt auch zwischen den islamischen Sufis und den christlichen Eremiten, die beide das Schicksal des ewigen Außenseiters hätten tragen müssen. Ebenso findet er Parallelen zwischen Christentum und Marxismus, allerdings muss man nicht unbedingt seine Ansicht teilen, beim Roten Stern handle es sich um "nichts anderes als eine Variante zum Stern von Bethlehem" (227).
Ein weiteres Anzeichen für die Subjektivität in der Herangehensweise ist die Neigung, sich mehr für die religiösen Außenseiter zu interessieren als für den Mainstream und die "Amtskirchen". Bei der Behandlung Polens in der frühen Neuzeit widmet Schmidt den Antitrinitariern und Täufern mehr Raum als den Katholiken, Calvinisten und Lutheranern. Ähnlich verhält es sich beim Judentum mit dem Chassidismus und beim Islam mit dem Sufismus.
Die Sprunghaftigkeit der Argumentation macht es auch schwierig, einen roten Faden in dem Buch auszumachen. Wenn man einen solchen benennen sollte, so wäre es vielleicht der Prozess der Säkularisierung und seine verschlungenen Pfade in den verschiedenen Religionen und religiösen Strömungen. Aber auch dies steht quer zu der Feststellung, von der das Buch seinen Ausgang nimmt, dass nämlich in Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Religion wieder aufgelebt sei. Eine zusammenhängende Lehre gewinnt der Leser durch die Lektüre kaum. Er kann sich immerhin zum eigenen Nachdenken inspirieren lassen.
Christoph Schmidt: Pilger, Popen und Propheten. Eine Religionsgeschichte Osteuropas, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 293 S., ISBN 978-3-506-77265-7, EUR 34,90
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