Der vorliegende Band ist die überarbeitete und leicht gekürzte Fassung der 2007 auf Deutsch erschienenen Dissertation von Anti Selart. Die Dissertation selbst wurde 2002 an der Universität Tartu angenommen. Fünf Jahre später erschien sie - ebenfalls überarbeitet - als Band 21 der "Quellen und Studien zur baltischen Geschichte" unter dem Titel "Livland und die Rus' im 13. Jahrhundert".
Die Gliederung der deutschen Ausgabe wurde weitgehend beibehalten, wenngleich einige Überschriften den Inhalt konkreter wiedergeben. So lautet Punkt 1.2. jetzt passender: "Relations between the Russian Principalities and their Western Neighbours" und nicht mehr wie in der deutschen Ausgabe: "Das russische Gebiet und seine westlichen Nachbarn".
Quellenwerke und Literatur ohne oder ohne nennenswerten Bezug zur englischen Textfassung wurden entfernt oder durch aktuelle ersetzt. Die neuesten Forschungen, welche Bezüge zu dem behandelten Gegenstand aufweisen, ergänzen oder modifizieren einige der bisherigen Aussagen Selarts. Sie stehen jedoch nicht im Widerspruch zu bereits 2007 getroffenen Feststellungen. Insofern lässt sich die vorliegende Monografie schon jetzt als Standardwerk bezeichnen, welches einen fundierten Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen darstellt.
Den Grund, sich mit dem Thema eingehender zu beschäftigen, sieht Selart im Widerspruch zwischen der sehr großen Menge an Literatur "devoted to the region, either as its main subject or just tangentially" sowie "the variety of points of view and interpretation" einerseits und der Tatsache andererseits, dass die Autoren "in this field have tended to be swayed more by their own personal political and ideological prejudices than by the actual source material or professional standards of scholarship" (1). So ist das Baltikum "an area that has been disputed by various political powers across the centuries, and this tension is reflected in the historiography" (1). Darum wendet sich der Verfasser erstmals einer eingehenden und kritischen Analyse der Quellen zu, die sich zwischen 1180 und 1350 auf das Baltikum beziehen und die dort handelnden Protagonisten in den Blick nehmen. Hierbei geht es ihm vor allem um zwei, miteinander im Zusammenhang stehende Fragen: 1. Bestand zu dieser Zeit ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen östlicher und westlicher Welt, insbesondere im religiösen/ideologischen Bereich? (12), und 2. Bis zu welchem Grad waren "Livonia and Rus' actually represented distinct societies and cultures during the early 13th century, confronting each other as internally cohesive entities"? (15)
Im folgenden Abschnitt beschreibt Selart eingehend "The Religious Frontier in Eastern Europe in the Twelfth Century". Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass konfessionelle Gegensätze damals noch keine Rolle spielten, aber Teil politischer Polemik waren. Zudem wurde die Mission im Baltikum durch die damaligen Machtzentren in Skandinavien und Norddeutschland angeregt. Für das Papsttum waren die Ereignisse in Livland eine Randerscheinung abseits der großen Politik. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass Livland, die Rus' und das Europa im Einzugsbereich der römischen Kirche zu dieser Zeit keine einheitlichen Gebiete oder Regionen waren, ein Umstand, der nach Selart in der Forschung oft unberücksichtigt blieb.
In den beiden Hauptteilen unterzieht der Verfasser vor allem die Quellen, die Livland und die Rus' betreffen, einer genauen Analyse. Die zeitliche Grenze zwischen beiden Abschnitten bildet etwa die Mitte des 13. Jahrhunderts. Für die Zeit zwischen 1180 und 1240 äußert Selart unter anderem berechtigte Zweifel, dass es seitens der Rus' eine bewusste orthodoxe Mission in Lettland gab. Zugleich macht er deutlich, dass die Missionstätigkeit Meinhards und seiner Nachfolger in Livland längere Zeit im Einvernehmen mit dem Fürstentum Polozk erfolgte. Außerdem wurden von livländischer Seite niemals militärische Unternehmungen direkt gegen die Rus' geführt, sondern immer nur gegen heidnische Territorien, und zwar mit dem Ziel, sie zu erobern und zu missionieren. Zu Auseinandersetzungen zwischen Livland und der Rus' kam es immer dann, wenn die Interessen beider Parteien in den heidnischen Territorien aufeinandertrafen.
Im Laufe des 13. Jahrhunderts gingen die in diesem Raum handelnden Protagonisten aufgrund ihrer Interessenlage wechselnde Koalitionen ein, und das unabhängig von der Konfession. Darüber hinaus weist Selart überzeugend nach, dass die Auseinandersetzungen in Livland und in den angrenzenden Territorien keinesfalls Teil einer gezielten päpstlichen Machtpolitik waren. Zwar wurde die Politik Roms gegenüber der Rus' um die Mitte des Jahrhunderts ebenso von den allgemeinen Bestrebungen nach einer Union von lateinischer und Ostkirche geprägt. Jedoch erweist sich die Hypothese von der Errichtung eines Kirchenstaates an der Ostsee ebenso als falsch wie die Auffassung, Novgorod sollte zum römischen Glauben gezwungen werden.
Es waren ebenso die Interessen der jeweils lokalen oder regionalen Mächte, die das Bild, welches in den Quellen von der Rus' gezeichnet wurde, bestimmten. Derart gefärbte Informationen erreichten auch die Kurie, vor allem über Polen und Ungarn, weniger über Livland und Skandinavien. Diese Nachrichten prägten das Feindbild von der Rus' als einem schismatischen Land. Dazu trug ebenso die, wenn auch vergebliche, Propagierung von Kreuzzügen gegen die Tataren bei.
Im zweiten Hauptteil beleuchtet Selart für die Zeit bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts unter anderem die Auseinandersetzungen sowohl in der Rus' als auch in Livland, und zwar vor dem Hintergrund der wachsenden Macht Litauens. Zugleich geht er auf die Konkurrenz Schwedens und Dänemarks in diesem Raum ein. In Livland war es der sich verschärfende Gegensatz zwischen dem Erzbischof von Riga und dem Deutschen Orden, der die Politik entscheidend prägte. Dieser Konflikt bestimmte auch den Krieg 1297 - 1330 zwischen der Stadt Riga, auf dessen Seite das Fürstentum Pskov/Pleskau stand, und dem Orden. Die inneren Spannungen in Livland beeinflussten, ebenso wie die Kämpfe gegen Litauen seit 1270, das Bild von der Rus' als Feind der Christenheit. Die Konfliktparteien nutzten in ihrer politischen Agitation das Argument der heidnischen oder schismatischen Gefahr, um in den Auseinandersetzungen um die Hegemonie in Livland die Wahl der eigenen Verbündeten zu begründen und die der gegnerischen Seite zu verurteilen.
Anti Selart zeichnet mit seiner Arbeit erstmals ein vorurteilsfreies Bild von den Beziehungen zwischen den sich entwickelnden Territorien Livlands sowie seinen östlichen und südöstlichen Nachbarn zwischen 1180 und 1350. Grundlage hierfür ist die eingehende und methodisch vorbildliche Analyse der Quellen, deren Bewertung nicht immer einfach ist. Zugleich stellt er die Entwicklungen in dieser Region in Zusammenhang zu den Ereignissen im Ostseeraum sowie in Verbindung zu jenen Regionen Europas, die sich gleichfalls an der Grenze zur orthodoxen Welt befanden. Seine Untersuchungen belegen eindeutig, dass es weder eine unüberbrückbare Kluft zwischen westlicher und östlicher Welt gab noch dass sich Livland und die Rus' im frühen 13. Jahrhundert als unterschiedliche und innerlich geschlossene Gesellschaften gegenüberstanden.
Anti Selart: Livonia, Rus' and the Baltic Crusades in the Thirteenth Century (= East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450-1450; Vol. 29), Leiden / Boston: Brill 2015, XII + 385 S., ISBN 978-90-04-28474-6, EUR 140,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.