Das Gesundheitswesen in der DDR gilt mancherorts noch immer als eine der "Errungenschaften", die sich zu erhalten gelohnt hätte. In dem am Erlanger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin entstandenen Sammelband "Medizinethik in der DDR" werden mehrere Beispiele für exkulpierende oder Unrecht ignorierende Sichtweisen auf die Medizin im SED-Staat genannt, auch in der Forschungsliteratur: Dem 2010 mit fast gleichem Haupttitel erschienenen Buch von Hartmut Bettin und Mariacarla Gadebusch Bondio "Medizinische Ethik in der DDR" [1] fehle es an kritischer Perspektive; die Studie von Peer Pasternack [2] spreche, wenn medizinisches Unrecht verhandelt werde, gerne von unangemessener Skandalisierung und ignoriere mehrere "Problemgebiete der DDR-Heilkunde" (209).
So fordern die Herausgeber "Ad fontes et ad Disputationes!" und zeichnen ihrerseits ein düsteres Bild der DDR-Medizin (209). Dieses steht im Vordergrund. Der Titel "Medizinethik in der DDR" irritiert, denn nur nachrangig geht es um explizit medizinethische Debatten, den Inhalt entsprechender Lehre oder Stellungnahmen ärztliches Handeln an moralischen Wertmaßstäben messender Beobachter. Dabei weicht in den einzelnen Beiträgen der scharfe Ton von Einführung und Nachwort analytischer Bestandsaufnahme.
Im ersten von vier Abschnitten widmen sich die Autorinnen und Autoren dem politischen Einfluss auf die Medizin. Aufschlussreich ist dabei die Auswertung der "Stasi-Akten zu den Bezirksärzten" (15) aus den 1980er-Jahren (Rainer Enrices / Antje Gunz). Die Liste der von der Stasi gezählten Versorgungsmängel ist lang. Sie betrafen unter anderem Medikamente zur Therapie von Angina pectoris und Asthma, Hormonpräparate, Blutverdünner und Verbandstoffe. 1988 wurde "ein Viertel aller bestellten Pharmazeutika nicht an die Apotheken geliefert" (16). Die Missstände führten bisweilen zu Aussprachen im Politbüro, etwa als weder OP-Handschuhe noch Kondome in ausreichender Qualität und Zahl zur Verfügung standen. Auch über den desaströsen baulichen Zustand der Krankenhäuser war die Stasi bestens unterrichtet. Im Bezirkskrankenhaus Zwickau konnte beispielsweise wegen Bauschäden ein Viertel der Betten nicht belegt werden.
Der sich weiter verschlechternden Lage glaubte die SED-Führung durch ethisch bedenkliche Maßnahmen entgegenwirken zu müssen: Blutplasma wurde exportiert, obwohl der Eigenbedarf nicht gedeckt war. 1987 liefen in der DDR 115 Arzneimittelstudien für ausländische Auftraggeber parallel, bezahlt mit Devisen aus dem "nichtsozialistischen Ausland". Das "Versuchsfeld DDR" wird in einem eigenständigen Aufsatz (Rainer Erices / Andreas Frewer / Antje Gumz) eingehend beschrieben (129). Besonders wertvoll ist eine nach Präparatnamen geordnete Liste von Testungen durch westliche Firmen mit Angabe der Überweisungssummen an die DDR und der Zahl der teilnehmenden Patienten.
Eklatant war der Mangel an Ärzten, nicht nur wegen der von Markus Wahl untersuchten "Fluchtbewegung" in die Bundesrepublik (74). Zwischen 1981 und 1986 konnten allein im Bezirk Leipzig 56 Ärzte nicht angestellt werden, weil es für sie keine Wohnungen gab. Eine Stasi-Quelle aus Ueckermünde meldete: "Hier läuft bald gar nichts mehr". Die geografische Lage, die "absolut schlechte" Versorgung, das fehlende Westfernsehen und die nicht vorhandenen Freizeitmöglichkeiten lieferten die Begründungen: "In den Wald kann man auch nicht gehen, weil dort überall Armee ist." (22)
Ärzte waren freilich nicht nur Opfer, sondern auch Teil des Unterdrückungssystems. Das zeigt Francesca Weil, wenn sie ebenfalls aus den Stasi-Akten Informationen über das Netz informeller Mitarbeiter der Stasi ausbreitet. Sie konnte 493 "IM-Ärzte" ermitteln, die zu einem erheblichen Teil Informationen aus der Anamnese den staatlichen Behörden weiterleiteten (54). Den Folgen der politischen Haft in der DDR wendet sich Kornelia Beer zu. Die Medizin ließ wie die gesamte Gesellschaft den Betroffenen nach 1989 nur unzureichend Hilfe zuteilwerden.
Der zweite Abschnitt des Buches wendet sich ethischen Problemen und medizinischen Skandalen zu. Andrea Quitz schildert, wie die in der DDR erlaubte "Schwangerschaftsunterbrechung" mit Einführung der 12-Wochen-Fristenlösung allein 1972 zu 115000 Abbrüchen führte (zum Vergleich: heute liegt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche im vereinten Deutschland unter 100000 pro Jahr). Eine konkrete Gefahr ging für Schwangere 1978/79 von der Anti-D-Prophylaxe zum Schutz von Kindern mit von der Mutter abweichendem Rhesusfaktor aus. Mindestens 2650 Frauen, so erläutert Anne Mesecke, wurden durch verunreinigte Chargen mit Hepatitis C infiziert, zum Teil obwohl die Behörden um die Gefährdung wussten. Andrea Quitz kommt in ihrem Beitrag über "moralische Fragen von Sterben und Tod" anders als der "Staatsethiker Ernst Luther" zu dem Schluss, eine freie Ethik habe "es in der DDR nie gegeben" (161). Eine Ursache war neben ideologischen Schranken auch hier der limitierende Faktor der mangelhaften Planwirtschaft, die Menschen sterben ließ, weil sie beispielsweise 1976 auf nephrologischem Gebiet nur 25 Prozent der Patienten angemessen mit einer künstlichen Niere behandeln konnte.
Im dritten Abschnitt werden biografische Ärztekarrieren in der DDR geschildert. Ludwig Mecklinger findet als Gesundheitsminister Beachtung, der den "Antifaschismus-Mythos" (169) pflegte und zugleich dazu beitrug, dass NS-Medizinverbrecher in der DDR unbehelligt blieben (Rainer Erices). Der Chirurg Herbert Uebermuth wurde als Leipziger Klinikdirektor gegen den "Klassenfeind" instrumentalisiert, nachdem im Westen die Tageszeitung "Die Welt" 1960 wohl falsche Vorwürfe wegen politischer Drangsalierung von Mitarbeitern seiner Klinik erhoben hatte (Francesca Weil). Der Nephrologe Horst Klinkmann war als SED-Mitglied, Präsident der Akademie der Wissenschaften und Stasi-IM so sehr am Unrechtssystem beteiligt, dass er 1993 seine Rostocker Direktorenstelle verlor. Gleichwohl fand er als Aufsichtsratsvorsitzender von Hansa Rostock und Mitglied in dem um Klaus von Dohnanyi gruppierten "Gesprächskreis Ost" zur Beratung der Bundesregierung neue Anerkennung (Rainer Erices / Antje Gumz / Andreas Frewer). Der Rechtsmediziner Otto Prokop wechselte 1957 als 35-jähriger Österreicher aus Bonn an die Charité und fiel durch Nichtanpassung an das Regime auf. Er verweigerte übliche Huldigungen Walter Ulbrichts, Postkontrollen, politische Schulungen und vorgeschriebene Anmeldungen von Interviews. Zugleich wurde er direkt mit den Opfern des DDR-Unrechts konfrontiert: Er war für die Obduktion von Mauertoten verantwortlich (Rainer Erices).
Mag das geschichtspolitisch motivierte Engagement der Herausgeber auch zunächst überraschen, so versammelt der Band doch wichtige Erkenntnisse zur DDR-Medizin, die jenseits des Lobs auf Polikliniken und Ambulatorien liegen. Zu bemängeln ist, dass gerade in den auf Stasi-Quellen beruhenden Aufsätzen in den Fußnoten zwar der Fundort vermerkt ist, aber auf die Datierung des jeweiligen Dokuments verzichtet wird. Hilfreich sind die im vierten Abschnitt zusammengestellten Dokumente zur Rechtslage in der DDR. Auf ein Personenregister kann nicht zugegriffen werden.
Anmerkungen:
[1] Hartmut Bettin / Mariacarla Gadebusch Bondio: Medizinische Ethik in der DDR. Erfahrungswert oder Altlast?, Lengerich 2010.
[2] Peer Pasternack: Akademische Medizin in der DDR. 25 Jahre Aufarbeitung 1990-2014, Leipzig 2015.
Andreas Frewer / Rainer Erices (Hgg.): Medizinetthik in der DDR. Moralische und menschenrechtliche Fragen im Gesundheitswesen (= Geschichte und Philosophie der Medizin; Bd. 13), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015, 287 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-11175-1, EUR 56,00
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