Dieses Buch erzählt über Angst in Polen - vom Einmarsch der Roten Armee im Sommer 1944 bis zu den Wahlen 1947. Die Geschichte von Emotionen, oder eher die Perzeption von Gefühlen, ist in Deutschland seit einigen Jahren en vogue. In der polnischen Historikerzunft, die gemeinhin methodisch konservativer ist, stellte diese Perspektive vor gut zwei Jahren eine echte Neuheit ein. Zarembas Warschauer Habilitation war das Buch des Jahres, das auch in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde. Das lag nicht zuletzt an dem breiten Panorama, das hier präsentiert wird: Im Grunde kann man das Werk durchaus als eine Kulturgeschichte der polnischen Nachkriegszeit lesen, selbst wenn natürlich gewisse Schwerpunkte gesetzt werden.
Für den deutschen Leser ohne Vorkenntnisse ist das nicht immer leicht nachvollziehbar, einfach weil viel Wissen zur polnischen Geschichte vorausgesetzt wird. Doch Zaremba erzählt mit großem Können, zitiert ebenso ausführlich wie anschaulich aus seinen Quellen - meist Briefe und Tagebücher, viel seltener Behördenakten - und bringt viele Facetten ans Licht. Es entsteht beinahe so etwas wie eine "dichte Beschreibung" der damaligen Gefühlslage. Dabei geht es ihm hauptsächlich um die Folgen von Angst, als die er Gerüchte, Panik und vor allem Gewalt identifiziert; sie seien Ausdruck einer bestimmten Interpretation der Umwelt. Gefühle von Bedrohung, Unsicherheit und Vorläufigkeit gründeten laut Zaremba zuvorderst in der viel geringeren gesellschaftlichen und staatlichen Kontrolle, was umgekehrt die Furcht vor einer Bestrafung deutlich verringerte. Letztlich führte das zu einem Zustand der Anarchie, einer Übergangsphase, in der alte Regeln nicht mehr und neue noch nicht galten.
Dieses Chaos wird meisterlich beschrieben, und schon alleine deshalb ist das Buch unbedingt lesenswert. Es liefert einen Erklärungsansatz etwa für Pogrome und Lynchmorde, für all die exzessive individuelle Gewalt jener Zeit - sie lag demnach in der psychischen Verfassung der Menschen: "Angst, Furcht und Grauen war, was die Polen im Krieg erlebten. Die dominierenden Gefühle nach seinem Ende waren Beunruhigung, Befürchtungen, Schrecken und Bangen." (24)
In Deutschland wird die Nachkriegszeit oft als eine Erfolgsgeschichte von Aufbau und Demokratisierung geschrieben. Umso bemerkenswerter, dass viele Phänomene hier und dort sich ähnelten: Leichen und Trauer überall, Desintegration und Atomisierung in Folge der Deportationen und Migrationen, und nicht zuletzt Armut und Hunger. Freilich stellte sich der Fall Polens deutlich extremer dar: 1945 war das Volkseinkommen auf 38 Prozent des Vorkriegsniveaus gefallen. Dazu kam die weitere Deformation der schon im Krieg archaisierten Gesellschaft, in der 40 Prozent der Akademiker nicht überlebt hatten und neue Eliten mit alten einen blutigen Kampf ausfochten.
Außerdem weist Zaremba auf eine Vorgeschichte der Angst hin, die bis zum polnisch-sowjetischen Krieg 1920 zurückreicht. Politik und Kirche hatten die Bolschewiki als jüdisch-antichristliche Monster diffamiert, von einer "Seuche aus dem Osten" gesprochen und eine Kultur der Furcht etabliert. Die rassistische Animalisierung der "Judäokomune" führte zu einer tragischen Verquickung von Juden und Kommunisten, die auch nach 1944 wirkmächtig war. Dem Hass ausgeliefert waren aber auch die Angehörigen der deutschen Minderheit, und zwar meist vollkommen ungeachtet ihrer Haltung unter der Besatzung. Weißrussen und Ukrainer traf es, weil sie pauschal als Räuber polnischer Erde galten, und der Untergrund letzterer einen blutigen Kampf gegen alles Polnische führte, was mit gleicher Münze zu vergelten war.
Mit dem Sieg der Sowjetunion über Deutschland schienen, abgesehen von den "Volksdeutschen", diese Gruppen endgültig zu triumphieren. Das Trauma des geraubten Sieges, den Polen nicht selbst erzielen durfte und konnte, verstärkte Angst, Aggression, Alkoholismus, eine Kultur der Manipulation und der Gleichgültigkeit und einen Zynismus dimorpher Weltanschauungen. Bei zugleich wachsender Religiosität und starker nationaler Bindung schien die Familie der einzig überdauernde Wert zu sein. Sie galt es mit allen Mittel zu schützen bzw. ihr einen Vorteil zu verschaffen.
Um die Angehörigen vor allen realen und imaginierten Bedrohungen zu verteidigen, wurde Gewalt ein legitimes Mittel. Im Machtvakuum nach dem Durchzug der Roten Armee fand daher eine allgemeine Bewaffnung statt - auch gegen die marodierenden russischen Soldaten. Man rechnete mit tatsächlichen und vermuteten Verrätern ab und raubte, wo man konnte; weil so viel "herrenloser" Besitz vorhanden war, ließ sich schlicht zugreifen. Wer etwas besaß, musste sein Eigentum vielfach verteidigen. Wer nichts hatte - und das war die große Masse - fühlte sich verraten und vergessen von Staat und Gesellschaft, was wiederum zur "Selbsthilfe" ermächtigte. Weil so beinahe jeder gewaltbereit war bzw. sein musste, entluden sich Ausbrüche von Hass oftmals an den Repräsentanten der neuen, noch fragilen Macht.
Die Menschen fanden sich in einem regelrechten Bürgerkrieg zwischen den kommunistischen Funktionären und den Vertretern der alten, nationalkonservativen Richtung und ihrer Heimatarmee wieder. Noch in den ersten zehn Augusttagen 1946 kam es zu 135 bewaffneten Raubüberfällen in Polen, davon sieben auf Milizwachen, elf auf Bahnhöfe und vier auf Banken. Im September wurden sogar 1.114 Überfälle von "Banden" gezählt. Jeder versuchte, seine Feinde zu terrorisieren. Der Staat regierte ebenfalls mit einer Politik der Angst - dann vor Verfolgung, Umsiedlungen oder Repressionen.
Zaremba bietet keine einfachen Erklärungen oder Deutungen. Alles hängt bei ihm mit allem zusammen, geht ineinander über und verwischt. Doch gerade darin liegt die große Stärke des Buches. Aber es bleiben auch Fragen offen: War diese Angst nicht vielfach schlicht Neid auf diejenigen, denen es vermeintlich besser ging? Wann war die Furcht Ursache für Handeln, wann dessen Auswirkung? In der Praxis wird es wohl beides zugleich gewesen sein, aber gerade das macht "Angst" als Analysekategorie wenig griffig. So überzeugt letztlich die Darstellung der apokalyptischen Heimsuchungen in ihrer Gesamtheit. Dass Angst eine Folge davon war, leuchtet unmittelbar ein. Plausibel ist natürlich auch, dass diese Furcht selbst handlungsleitend wurde. Aber letztlich gibt es wenig Belege, die sie für spezifische Vorfälle tatsächlich als primäres Movens nachweisen.
Jenseits dessen hat Zaremba eine echte Meistererzählung vorgelegt. Das gilt trotz eines mangelhaften Lektorats und mancher eher putziger Übersetzungsfehler - William Simmons, der Gründer des Ku Klux Klan, stammte beispielswiese aus Georgia, nicht aus Georgien (45). Das Buch bietet vielfältige Anknüpfungspunkte und lädt zum Vergleich nachgerade ein - Keith Lowes europäisches Panorama wäre wohl an einigen Punkten zu korrigieren. Für deutsche Leser liegt hier wohl die wichtigste Publikation der letzten Jahre zur polnischen Geschichte vor, die zentrale Erkenntnisse bündelt und souverän mit eigenen Forschungen verknüpft. Für das Verständnis von Kriegsende und unmittelbarer Nachkriegszeit ist sie unerlässlich.
Marcin Zaremba: Die große Angst. Polen 1944-1947: Leben im Ausnahmezustand, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 629 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78093-5, EUR 49,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.