Raul Hilberg, der Doyen der Holocaust-Forschung, meinte einmal, er misstraue den großen Fragen. Daher untersuche er nicht, warum die Nazis die Juden ermordet haben, sondern wie sie es taten. Damit vermied Hilberg zum einen jegliche Form der Rationalisierung des Massenmordes, zum anderen trug er durch die präzise Analyse des "Wie" indirekt auch zur Beantwortung des "Warum" bei. Die Antisemitismusforschung hat sich seit den siebziger Jahren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, daran orientiert und so liegen die Innovationen in diesem Feld eher im Bereich der Regional- und Einzelstudien. Mit dem Aufkommen eines sogenannten "Neuen Antisemitismus", der sich vor allem gegen den jüdischen Staat Israel richtet, haben die tagespolitischen Auseinandersetzungen über den Begriff des Antisemitismus allerdings merklich zugenommen und immer öfter landet die Frage, ob etwas antisemitisch sei oder nicht, sogar vor Gericht. Die Forschung reagiert nun, etwas verspätet, auf diese Entwicklungen, indem wieder verstärkt theoretische Analysen vorgelegt werden. Zuletzt hat etwa Kenneth L. Marcus, der bezeichnenderweise kein Historiker, sondern Rechtswissenschaftler ist, eine bemerkenswerte Studie mit dem Titel The Definition of Anti-Semitism vorgelegt, in der er begründet, warum auch manche Formen der "Israelkritik" als antisemitisch bzw. antijüdisch zu charakterisieren seien. [1]
In diesem Kontext ist auch das neue Buch Anti-Judaismus des Mediävisten David Nirenberg zu beleuchten, an dem dieser laut eigener Aussage ein ganzes Jahrzehnt gearbeitet hat. Das ist dem Buch anzumerken, sowohl was den umfangreichen Anmerkungsapparat, als auch was den weiten räumlichen und zeitlichen Horizont betrifft, den Nirenberg zumeist souverän behandelt. Das Buch besteht aus dreizehn Kapiteln und ist weitgehend chronologisch gegliedert, beginnend im antiken Ägypten und sich Seite für Seite bis ins 20. Jahrhundert fortarbeitend. Erwähnenswert ist zudem, dass Nirenberg ausdrücklich die islamische Welt in die "Geschichte des westlichen Denkens" einbezieht. Mit diesem Untertitel ist auch bereits die Richtung vorgegeben: Nirenberg schreibt explizit keine jüdische Geschichte des Antisemitismus, sondern versteht den Anti-Judaismus als Denkkonzept, als epistemisches Muster, das der westlichen Weltdeutung zugrunde liege. Etwas überraschend bezieht sich der Autor diesbezüglich auf Karl Marx' Essay Zur Judenfrage aus dem Jahr 1843, der von der Forschung häufig selbst in eine antisemitische Tradition gestellt wird. Nirenberg hält dem entgegen, dass Marx die "fundamentale Einsicht" gehabt habe, "dass die 'Judenfrage' sich ebenso sehr auf die grundlegenden Werkzeuge und Konzepte bezieht, durch die Menschen in einer Gesellschaft in Beziehung zur Welt und zueinander treten, wie auf die Anwesenheit 'realen' Judentums und realer Juden in dieser Gesellschaft. Er verstand, dass einige dieser grundlegenden Werkzeuge - wie Geld und Besitz - in der christlichen Kultur als 'jüdisch' galten und daher potenziell das 'Jüdischsein' derjenigen Personen schufen, die sie benutzten - gleichgültig ob sie Juden waren oder nicht." (15)
Davon ausgehend untersucht Nirenberg den Anti-Judaismus als ein Denken, das permanent "Juden" und "Jüdisches" aufspürt. Damit ist die Gegenüberstellung von Geist und Fleisch gemeint, wobei laut Nirenberg letzteres als Metapher für Materialismus, Buchstabengläubigkeit, Innerweltlichkeit und Partikularismus fungierte. Nirenberg schließt hier an die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an, die ja ebenfalls die Geschichte abendländischen Denkens als Herrschaft des Geistes über die Natur gedeutet hatten, die wiederum in Form des Antisemitismus auf den Geist zurückschlage. [2] Nirenberg kann zeigen, wie die materialistische Versuchung über Jahrhunderte hinweg konsequent als "jüdisch" definiert wurde und dadurch unabhängig von realer jüdischer Präsenz "Judenfragen" formuliert wurden, die das eigene Weltbild und Lebensmodell erklärten. Innerhalb der Antisemitismusforschung hat sich seit längerem die Unterscheidung zwischen Realkonflikt- und Ersatzkonflikttheorien herausgebildet. [3] Nirenberg tendiert zu letzterem, legt den Fokus aber nicht auf die "Sündenböcke", sondern auf die diskursiv ausgetragenen Konflikte zwischen Nichtjuden.
So überzeugend die Einzelanalysen ausfallen, so bleiben doch einige Probleme, von denen hier nur zwei genannt seien: Erstens fügt sich das erste Kapitel zur Alten Welt (25-57) nicht in die Argumentationsstruktur des Buches ein, obwohl es doch gerade erklärungsbedürftig wäre, warum ein vorchristlicher Denker wie Apion bereits Ritualmordvorwürfe an die Juden formulierte. Zweitens sperrt sich der Inhalt mitunter gegen das Interpretationsschema. Der Antijudaismus ist offenbar viel zu inkohärent, als dass er sich auf die einfache Gegenüberstellung "Geist" versus "Fleisch" bringen lassen würde. Das Beispiel Bruno Bauers, eines radikalen Philosophen des 19. Jahrhunderts, ist hierfür besonders aussagekräftig. Nirenberg erwähnt nur dessen Vorwurf, dass die Juden sich vom Rest der Menschheit absonderten (434), verschweigt aber die zweite zentrale Anschuldigung Bauers: dass die Juden sich dem Fortschritt verweigerten. [4] Selbstverständlich ist auch dieser Vorwurf in der christlichen Theologie des "Neuen Bundes" vorgebildet - zugleich jedoch widerspricht dieser auch dem modernen Antisemitismus, der bekanntlich die Juden gerade mit Fortschritt und Entwurzelung assoziierte. Entweder werden die Juden als Agenten des Fortschritts oder als halsstarrige Traditionalisten gekennzeichnet - tertium non datur. Gerade diese Widersprüchlichkeit aber, dieser fundamentale Irrationalismus, macht historisch und zeitgenössisch die besondere Anziehungskraft der Judenfeindlichkeit aus. Das große Problem einer Erklärung des Antijudaismus bleibt dessen Oszillieren zwischen absoluter Willkürlichkeit und Zielgerichtetheit: Egal, um welchen Vorwurf es geht, es sind immer die Juden schuld. Allen Theorien des Antisemitismus, die diesen Widerspruch nicht ins Zentrum stellen, eignet die Tendenz zur Simplifizierung und Konstruktion.
Nirenberg ist sich dieses Risikos bewusst (siehe seine Diskussion Hannah Arendts auf 462-465) und formuliert deshalb sehr vorsichtig und differenziert. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich gegen den Zeitgeist dazu entschieden hat, eine reine Geistesgeschichte des Antijudaismus zu schreiben. Nirenbergs Buch ist im besten Sinne als gelehrt zu bezeichnen und die Analyse der einzelnen Denker überaus erhellend. Die Gesamtkonstruktion wirft hingegen die Frage auf, was in ihr alles nicht berücksichtigt ist, um die Stringenz des Arguments nicht zu gefährden. Lobend sei abschließend der wunderbare Stil des Autors hervorgehoben, der es versteht, komplizierte Sachverhalte so zu erklären, dass auch der gebildete Laie sie verstehen kann. Kurzum: Nirenberg hat ein Standardwerk der Antisemitismusforschung geschrieben, das aus der Fachdiskussion schon jetzt nicht mehr wegzudenken ist.
Anmerkungen:
[1] Kenneth L. Marcus: The Definition of Anti-Semitism, Oxford 2015.
[2] Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1998.
[3] Vgl. Gavin I. Langmuir: Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley 1990.
[4] Bruno Bauer: Die Judenfrage, Braunschweig 1843, 5.
David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München: C.H.Beck 2015, 587 S., ISBN 978-3-406-67531-7, EUR 39,95
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