Religionssoziolog/inn/en und Zeithistoriker/innen betrachten die 1960er Jahre gewöhnlich als eine Zeit der Krise. In nahezu allen westeuropäischen Ländern brachen die Zahlen der Kirchenbesucher/innen seit der zweiten Hälfte des Jahrzehnts dramatisch ein. Die "religious crisis" (Hugh McLeod) ging durch alle christlichen Konfessionen; die katholische Kirche traf sie besonders hart, hatte Papst Johannes XXIII. doch gehofft, durch das von ihm einberufene Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) der Kirche einen zeitgemäßen Ort in der "Welt von heute" zu geben. In theologischer Hinsicht - etwa durch die Anerkennung des Prinzips der Religionsfreiheit - mag das Konzil seinen Auftrag erfüllt haben; den Bedeutungsverlust der Kirche innerhalb der westeuropäischen Gesellschaften konnte das Konzil jedoch nicht aufhalten.
Dieser heute vorherrschenden 'verfallstheoretischen' Sicht auf die Religionsgeschichte der langen 1960er Jahre stellt Gerd-Rainer Horn sein Gegenbild eines regelrechten (links-)katholischen Aufbruchs entgegen, der vom Konzil entfacht worden sei und einen erheblichen Schub auf die allgemeinen Liberalisierungstendenzen innerhalb der europäischen Gesellschaften seit Ende des Jahrzehnts ausgeübt habe. Dem Spirit of '68, dem Gerd-Rainer Horn - einer der besten Kenner der nordamerikanischen und westeuropäischen New Left - bereits 2007 in einem wichtigen Werk nachgegangen ist, stellt er den Spirit of Vatican II zur Seite: weniger als weltanschauliches Gegenüber, sondern vielmehr als Bundesgenossen auf kirchlichem Terrain mit vielfältigen Berührungspunkten zu den allgemeinen Protestbewegungen der Zeit. Es ist nicht das erste Buch, das der inzwischen am Pariser Institut d'Études Politiques (Sciences Po) lehrende Zeithistoriker den kirchlich-katholischen Aufbruchsbewegungen des 20. Jahrhunderts widmet. Bereits in seiner 2008 erschienenen Monographie über die Western European Liberation Theology der 1920er bis 1950er Jahre hatte er sich mit der "first wave" des europäischen Linkskatholizismus im 20. Jahrhundert beschäftigt und angekündigt, einen Fortsetzungsband zur "second wave" im zeitlichen Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils folgen zu lassen. Dieses Versprechen hat er nunmehr eingelöst.
Horn beginnt seine Darstellung mit einem Überblick über die wichtigsten Konzilsdokumente sowie die theologischen Neuaufbrüche der 1960er Jahre, die in ihren Ursprüngen zum Teil bereits in die 1930er Jahre zurückreichen, jedoch erst nach dem Konzil zur vollen Blüte gelangten. Von den Vertretern der nouvelle théologie der 1930er bis 1950er Jahre wie Yves Congar und Marie Dominique Chenu über Karl Rahner bis hin zu Johann Baptist Metz und den im deutschen Sprachraum weniger bekannten Reformtheologen Ernesto Balducci und José María González Ruiz erscheint hier ein Bild von Theologie als einer zeitgenössischen Reflexionswissenschaft, die ihre 'Zeit in Gedanken fasst' (wie Hegel es einmal als Aufgabe der Philosophie ansah). Insbesondere die Hinwendung zum Historischen und zur Gesellschaftsanalyse, der "turn to the temporal" (45), bei gleichzeitiger Wiederaneignung des prophetisch-messianischen Gestus und der Öffnung hin zur Utopie - etwa in der Rezeption der Werke Ernst Blochs durch Metz - gaben dem katholischen Glauben ein neues sprachliches Gewand, das auf der Höhe der Gesellschaftstheorie der Zeit war und zugleich unmittelbar handlungsanweisend wirken konnte, wie Horn in den folgenden Kapiteln zu verschiedenen linkskatholischen Basisbewegungen in Italien, Spanien, Belgien, Frankreich und den Niederlanden zeigt.
Im zweiten Kapitel wendet sich Horn zunächst den progressiven Priesterbünden zu, die insbesondere in den ersten Jahren nach dem Konzil eine Aktivität und mediale Präsenz aufweisen konnten, wie sie seitdem von kritischen Pfarrergruppen nicht wieder erreicht wurden. So lässt sich seit den späten 1960er Jahren ein Wiedererstarken der Bewegung der sogenannten 'Arbeiterpriester' erkennen, welche die traditionelle Pfarrgemeinde gegen Werkstatt und Fabrik als Ort von Seelsorge und Verkündigung eintauschten. Damit wurden pastorale Ansätze reaktiviert, die bereits in den 1940er und frühen 1950er Jahren in Frankreich und Belgien praktiziert, dann allerdings von Rom verboten worden waren. Ende der 1970er Jahre, so Horn, hatten allein in Frankreich um die 1000 Kleriker Erfahrungen als Arbeiterpriester gesammelt, in Italien waren es etwa 300. Neue und bis dahin völlig unbekannte Protestformen schlug hingegen die niederländische Priestervereinigung Septuagint ein, der zeitweise bis zu einem Viertel des niederländischen Gemeindeklerus angehörte und die offen für eine Aufhebung des Zölibats eintrat. Von Septuagint gingen zudem maßgebliche Anstöße zur Internationalisierung der Bewegung aus, die nicht nur zu innerkirchlichen Reformen anhalten wollte, sondern sich zunehmend zu einer weltweiten Solidaritätsbewegung mit der 'Dritten Welt', insbesondere im Hinblick auf Lateinamerika und die dortige Befreiungstheologie, weiterentwickelte.
Eng verbunden mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie war und ist das Konzept der sogenannten Basisgemeinden: ein Zusammenschluss von Priestern und Laien innerhalb, aber auch außerhalb der bestehenden Gemeindestrukturen, um die jeweiligen persönlichen wie gesellschaftlichen Erfahrungen im Lichte des Evangeliums zu reflektieren und daraus Orientierungen für das gemeinsame gesellschaftliche Handeln abzuleiten. Gerd-Rainer Horn zeigt, dass dieses pastorale Experiment keineswegs auf Lateinamerika begrenzt war, sondern auch in Europa aktiv praktiziert wurde, insbesondere in Italien, wo allein im Jahr 1975 über 200 solcher Zusammenschlüsse existierten. Die meisten dieser Comunità di base waren ephemerer Natur, andere - wie die Comunità di Sant'Egidio - haben sich hingegen bis heute halten können und sind inzwischen zu einer festen Größe im kirchlichen Leben geworden, und dies keineswegs nur in Italien, sondern weltweit. Gerade für die wichtige Transformationsphase der 1970er bis 1980er Jahre im Übergang von dem traditionell in Verbänden organisierten Laienkatholizismus hin zu den sogenannten 'Neuen Geistlichen Gemeinschaften' (wie etwa der genannten, auch in Deutschland gegenwärtig vor allem in karitativer Hinsicht aktiven Gemeinschaft Sant'Egidio) waren die pastoralen Aufbrüche in den ersten Jahren nach dem Konzil entscheidende Weichensteller. In vielerlei Hinsicht entsprachen die kirchlichen Basisgruppen den allgemeinen neuen sozialen Bewegungen der Zeit; auch vor innerkirchlichen Widerstandsaktionen wie Kirchenbesetzungen und öffentlichen Demonstrationsmärschen machten zumindest manche von ihnen nicht halt, wie Horn am Beispiel der Pfarrei von Isolotto in Florenz zeigt, wo sich die gesamte Gemeinde um ihren reformfreudigen Pfarrer scharte und den offenen Widerstand gegen die Hierarchie übte.
Ereignisse wie jene von Isolotto, wo die Gemeinde schlussendlich den Gottesdienst auf dem Platz vor der Kirche feierte, während der Kardinal das Gotteshaus nur unter Polizeischutz verlassen konnte, waren gleichwohl eine Ausnahme. Sie zeigen jedoch, dass der allgemeine Protestgestus der späten 1960er Jahre an der Kirche keineswegs spurlos vorbeiging, sondern auch dem kirchlichen Leben seinen Stempel aufdrückte. Wie eng die kirchlichen Reformbewegungen mit dem allgemeinen Linksruck in der Gesellschaft verbunden waren, zeigt Horn schließlich am Beispiel der Studenten- sowie der Gewerkschaftsbewegung der späten 1960er und 1970er Jahre. In beiden waren katholische Aktivisten an vorderster Stelle beteiligt, nicht selten entfachte ihr anfänglich christlich grundierter Reformeifer allerdings eine Dynamik, die sie von der Kirche schließlich immer mehr entfernte und zu rein diesseitigen Revolutionsaposteln werden ließ. Nicht nur Rudi Dutschke war bekanntlich zunächst von einem tiefen christlichen Impetus getrieben, sondern auch sein - in Deutschland weniger bekanntes - niederländisches Pendant, der ehemalige Priesteramtskandidat Ton Regtien. Wie sehr der studentische Protest der 1960er Jahre zu Beginn mit kirchlich-religiösen Kontexten verbunden war, kann Horn nicht nur am Beispiel der (damaligen) katholischen Universitäten von Tilburg und Leuven aufweisen, sondern zudem an der Beteiligung katholischer Studierender und ihrer Vereinigungen an den allgemeinen Studentenprotesten in Frankreich, Italien und Spanien. In ihrer utopischen Ausrichtung, so Horns Fazit, korrelierten die säkular-revolutionären Vorstellungen der allgemeinen Studentenproteste mit der messianisch-prophetischen Ausrichtung zahlreicher linkskatholischer Basisgruppen, die sich durch das Zweite Vatikanische Konzil legitimiert und durch die Sprache der postkonziliaren Theologie bestärkt fühlten, mit der Sache Jesu ernstzumachen.
Gerd-Rainer Horn hat mit seiner Darstellung des Spirit of Vatican II einen gewichtigen Beitrag sowohl zur allgemeinen Zeitgeschichte der 1960er und 1970er Jahre als auch zur gesellschaftsgeschichtlichen Katholizismusforschung dieser Jahre vorgelegt. Sein Buch verbindet diskurs- und intellektuellengeschichtliche Konstellationen mit konkreten Fallbeispielen, die stets aus der primären archivalischen Überlieferung heraus rekonstruiert werden. Allein auf dokumentarischer Ebene ist das Buch eine wahre Fundgrube für die Geschichte des europäischen Linkskatholizismus der nachkonziliaren Zeit. Wenn Horn die Zustände in Italien, Spanien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden beschreibt, dann tut er dies jeweils auf der Grundlage der Forschungsliteratur und Überlieferung in der jeweiligen Landessprache - und beweist dadurch eine sprachliche Kompetenz, die gegenwärtig nicht nur unter Religionshistorikerinnen und -historikern selten sein dürfte. Die deutschen Zustände werden von Horn hingegen nur am Rande gestreift; aber gerade der hierzulande zumeist recht nationalgeschichtlich betriebenen Katholizismusforschung sei das Buch empfohlen, um den Blick zu weiten und religionshistorische Phänomene in ihrer transnationalen Dimension wahrzunehmen.
Nach der 'ersten Welle' in den 1930er und 1940er Jahren und der 'zweiten Welle' in den eineinhalb Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist eine 'dritte Welle' des europäischen Linkskatholizismus bislang ausgeblieben. In seiner Einleitung hat Gerd-Rainer Horn daher bereits angekündigt, dass es keine Fortsetzung zu seinen beiden bisherigen Büchern über die European Liberation Theology geben wird. Vielleicht ist jedoch gerade diese Fehlanzeige Motivation genug, einmal der Frage nachzugehen, warum die linkskatholischen Aufbrüche in Europa seit den 1980er Jahren versiegten. Während nicht wenige Protagonisten der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre den 'Gang durch die Institutionen' antraten und - man denke nur an den Erfolg der hiesigen 'Grünen' - erheblich zur Liberalisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft beitrugen, verlor der europäische Reformkatholizismus in den letzten dreißig Jahren deutlich an gesellschaftlicher Sichtbarkeit. Die Gründe hierfür sind vielfältig und bedürfen weiterer Forschung. Zum einen mag der Bedeutungsschwund des nachkonziliaren Reformkatholizismus daran liegen, dass sich die kirchlichen Institutionen - nicht zuletzt aufgrund der strengen Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien - als weniger durchlässig erwiesen haben als staatliche Institutionen. Zum anderen wird man jedoch auch fragen müssen, ob nicht viele der linkskatholischen grassroots-Bewegungen einen biblischen Moralrigorismus an den Tag legten, der letztlich nur von einer kleinen Schar 'religiöser Virtuosen' (Max Weber) befolgt werden konnte, sich ansonsten jedoch mit den diversen Rollenanforderungen katholischer Laien zwischen Kirche, Familie und Berufswelt nicht vereinbaren ließ. Die Geschichte des europäischen Katholizismus 'nach dem Boom' des Konzils bleibt also noch zu schreiben.
Gerd-Rainer Horn: The Spirit of Vatican II. Western European Progressive Catholicism in the Long Sixties, Oxford: Oxford University Press 2015, IX + 264 S., ISBN 978-0-19-959325-5, GBP 55,00
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