In den Reigen der Neuerscheinungen zum 200. Jahrestag der Schlacht bei Waterloo reihen sich die Darstellungen des britischen Frankreichexperten und Napoleonkenners Munro Price (nun in deutscher Übersetzung vorliegend) und des deutschen Militärhistorikers Klaus Jürgen Bremm ein. Während Bremm den Fokus seiner Darstellung auf den Feldzug von 1815 legt, zeichnet Price Napoleons Scheitern vom Russlandfeldzug 1812 bis zu seinem Tod im Exil auf St. Helena 1821 nach. Umfassend und kenntnisreich führt er seine eingangs aufgestellte These aus, dass die Schlacht bei Waterloo keineswegs, wie von der Öffentlichkeit wahrgenommen, den "entscheidenden Moment" (8) von Napoleons Untergang darstelle; vielmehr sei der Kaiser der Franzosen zu diesem Zeitpunkt "kein anerkanntes Staatsoberhaupt mehr [gewesen], sondern ein Abenteurer, den die übrigen europäischen Mächte zum Gesetzlosen gestempelt hatten" (ebd.). Price fragt danach, warum Napoleon die ihm von seinen Gegnern mehrfach angetragenen Friedensangebote allesamt ausschlug - ob er sie zutreffend als Täuschungsmanöver einschätzte (was den Krieg zu einem unausweichlichen Konflikt gemacht hätte), oder ob sie aufrichtig waren (wodurch Napoleon allein für die Fortführung des Krieges verantwortlich gewesen wäre).
Zur Beurteilung dieser Friedensangebote zieht Price bislang unausgewertetes Archivmaterial aus den Pariser Archives Nationales, dem Nationalarchiv Prag und dem Staatlichen Regionalarchiv Třeboň in Tschechien sowie dem Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv und Burg Clam in Österreich heran, darunter Quellen aus den Nachlässen von Armand de Coulaincourt, Napoleons Außenminister der Jahre 1813/14, von Clemens Wenzel Fürst von Metternich, des österreichischen Außenministers und diplomatischen Gegenspielers Napoleons, und von Carl Clam-Martinici, des Adjutanten von Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg, Oberbefehlshaber der Alliierten in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 bzw. der österreichischen Armee im Feldzug von 1815. Überdies nutzt Price die seit 1812 durch Napoleon von den französischen Département-Präfekten geforderten Monatsberichte zur öffentlichen Meinung, die auch bei der gebotenen Vorsicht dieser Quellengattung gegenüber ein aufschlussreiches Bild der regionalen Stimmungslage und Einstellung der Franzosen zum Krieg und dessen Fortführung vermitteln.
In insgesamt 14 Kapiteln stellt Price detailliert nicht nur die militärischen Kampagnen, sondern auch das diplomatische Ringen zwischen Napoleon und seinen europäischen Widersachern nach der Niederlage in Russland 1812 dar, beginnend mit der Konvention von Tauroggen, durch die sich "die Natur des Krieges [...] veränderte" (63) und die Allianz zwischen Russland und Preußen herbeigeführt wurde, über den zum ergebnislosen Friedenskongress bei Prag führenden Frühjahrs- und den in der Völkerschlacht bei Leipzig kulminierenden Herbstfeldzug 1813 und den mit dem Ersten Pariser Frieden und dem Exil Napoleons auf Elba endenden Frankreichfeldzug 1814. Die Rückkehr Napoleons, seine als "eine der spektakulärsten Schicksalswenden in der neuzeitlichen Geschichte" (375) bezeichnete Herrschaft der Hundert Tage sowie die Niederlage in der Schlacht von Waterloo und schließlich sein Tod auf St. Helena sind hingegen nur noch Teil von Prices Epilog.
Price verknüpft geschickt die außenpolitischen Ereignisse mit der Stimmung im Innern Frankreichs und geht auf die Anhänger Napoleons ebenso wie auf seine Gegner, deren Herkunft und Strategien sowie diverse Komplotte und Verschwörungen ein. Metternich nimmt als Gegenspieler Napoleons dabei eine zentrale Stellung ein. Price zeichnet ihn nicht als den zynischen Diplomaten, der Napoleon vernichten wollte, wie ihn die französische Historiographie ein Jahrhundert lang von Albert Sorel [1] bis hin zu Thierry Lentz [2] beschrieb, sondern sieht den österreichischen Kanzler während der Feldzüge 1813 "in der Rolle des Vermittlers" (111) mit dem "aufrichtige[n] Bestreben, einen Frieden zu erreichen" (71).
Ausführlich stellt Price dar, wie sich die Phasen militärischen und diplomatischen Ringens ablösten und bedingten. Er zeigt anhand der oben genannten Präfektenberichte, wie die kriegsmüden Franzosen nach der Völkerschlacht bei Leipzig auf erneute Konskriptionen und Sondersteuern teils mit Resignation, teils mit Widerstand reagierten. In einigen Départements entglitten zum Jahreswechsel 1813/1814 entsprechende Aufstände wochenlang der Kontrolle durch die Behörden. Der Präfekt des ostfranzösischen Départements Côte d'Or berichtete im Dezember 1813 an den Innenminister Jean-Pierre Bachasson Montalivet: "Frieden, Monsieur, Frieden! Das ist der Schrei, in den Städten und auf dem Land" (264). In seiner Darstellung, die über weite Strecken in der Tradition der klassischen Diplomatie- und Militärgeschichte steht, kann Price durch die Berücksichtigung auch solcher Quellen zeigen, dass die innerfranzösische Unzufriedenheit mit Napoleon über einzelne Kritiker und oppositionelle Kreise weit hinausging. Nicht nur diplomatische und militärische Fehler, sondern auch seine "katastrophale Fehleinschätzung" des französischen Volkes (372), so Price, führten das Ende Napoleons herbei.
Irrtümer, versäumte Chancen und Missgriffe des Feldzugs von 1815 auf beiden Seiten sowie schließlich das militärische Ende Napoleons auf dem Schlachtfeld von Waterloo sind Gegenstand der Studie von Klaus-Jürgen Bremm. Er stützt sich dabei unter anderem auf Erlebnisberichte beteiligter Soldaten aller Dienstgrade. In drei sinnvolle Großkapitel gegliedert, beleuchtet der Band zunächst die Vorgeschichte und die Schlacht selbst, um dann zu deren Analyse zu kommen. Bremm geht davon aus, dass es nicht primär die Fehler Napoleons und seiner Generäle waren, die zur Niederlage führten, sondern "die zahllosen blutigen Duelle auf Kompanie- und Bataillonsebene, die vielen kleinen Entscheidungen [...], die sich schließlich zum Untergang einer ganzen Armee aufsummierten" (12). Nach einer Skizzierung der frühneuzeitlichen Kriegsführung und ihrer Umbrüche im Zeitalter der industriell-politischen Doppelrevolution sowie der Beschreibung Belgiens als europäischer Kriegsregion geht Bremm auf die Rückkehr Napoleons aus dem Exil auf Elba und die Einigung der Alliierten zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen ihn ein. Napoleon entschloss sich, die Entscheidung in der Offensive zu suchen, um eine Wiederholung des Feldzugs von 1814 zu vermeiden, der durch seine Länge und Erfolglosigkeit zu politischen Intrigen und Verrat geführt hatte; nur Angriff und rasche Siege "boten dem Kaiser die Chance auf ein politisches Überleben" (38).
Bremm charakterisiert zunächst mit dem Blick des Militärhistorikers ausführlich Bewaffnung, Organisation und Zusammensetzung der entsprechenden Heere, um dann Lebenswege und Charaktere der drei Kontrahenten Napoleon, Gebhard Leberecht von Blücher und Arthur Wellesley, des Herzogs von Wellington, bis zum Feldzug von 1815 nachzuzeichnen. Detailliert geht er auf die der Schlacht bei Waterloo unmittelbar vorangehenden Schlachten bei Quatre Bras und Ligny und die dortigen Fehleinschätzungen und Versäumnisse ein: Während Wellington am 15. Juni viel zu spät seine Truppen vor Quatre Bras zusammenzog und es Blücher trotz einer Überlegenheit von 20.000 Mann einen Tag später nicht gelang, Napoleons Armee bei Ligny zu schlagen, unterließ Napoleon es seinerseits zuerst, die Preußen nach der Schlacht von Ligny zu verfolgen und auszuschalten und am 17. Juni dann, die von den Preußen abgeschnittenen Truppen Wellingtons bei Quatre Bras zu schlagen. Auch in der von Bremm detailliert nachgezeichneten Schlacht bei Waterloo am 18. Juni kam es auf beiden Seiten zu einer Reihe kommunikativer Missverständnisse, nicht befolgter Befehle und Fehleinschätzungen. Bremm betont als Gründe des alliierten Sieges unter anderem die Überlegenheit der preußischen Marschleistung sowie der britischen Disziplin und Feuerkraft einerseits und die "Betulichkeit" (206) und das nahezu religiöse Vertrauen auf das militärische Genie Napoleons der Franzosen andererseits. Für den gesamten Feldzug von 1815 spricht Bremm von einem "Patt der Fehler und Versäumnisse" (204). Maßgeblich für den abschließenden Erfolg der Alliierten seien der "Elan und die Initiative der mittleren Führungsebene und das kämpferische Geschick der gewöhnlichen Soldaten" gewesen (205). Die Niederlage der Franzosen hingegen sei vor allem auf das "taktische Ungeschick der französischen Soldaten und ihrer unmittelbaren Führer" zurückzuführen (207). Bremms Darstellung schließt nach biographischen Epilogen über die Hauptbeteiligten mit einem Blick auf die europäische Friedensordnung nach dem Wiener Kongress und einer Skizze der Entwicklung Waterloos zum europäischen Erinnerungsort. In England war die Erinnerung am ungebrochensten; der Sieg Wellingtons bei Waterloo vollendete den zehn Jahre zuvor errungenen Triumph Nelsons bei Trafalgar. In Preußen wurde vor allem die Gemeinsamkeit des mit den Briten erfochtenen Sieges betont. Während sich in Frankreich, basierend auch auf den beschönigenden Memoiren Napoleons, zunächst die Legende der défaite glorieuse durchsetzte, die die Niederlage nur auf die Übermacht und das Schicksal zurückführte, kam es erst in den 1890er Jahren zu kritischeren Tönen. Spätestens seit den 1970er Jahren, so Bremm, sei Waterloo, "zu einem Ort europäischer Geschichte geworden, der sich nicht mehr den großen Entscheidungen der Heerführer widmet, sondern den Erfahrungen der einfachen Soldaten" (230), was sich etwa an der stetig wachsenden Zahl von Reenactoren aus zahlreichen europäischen Ländern zeigt.
Beide ansprechend ausgestatteten Bände enthalten viele Abbildungen, Register, Karten sowie ein bei Price ausführliches, bei Bremm knappes Quellen- und Literaturverzeichnis. Die bei Bremm durch militärhistorische Details teilweise stark gedehnte Darstellung gewinnt durch zahlreiche eingeschobene, mit Bedacht ausgewählte Quellenpassagen aus Erinnerungen der Schlachtbeteiligten in gelungener Weise an Anschaulichkeit. Während Prices Darstellung insbesondere den politischen Weg nach Waterloo analysiert, bietet Bremm einen detaillierten Blick auf die exakten Verläufe und militärischen Aspekte des Feldzugs von 1815 und der Schlacht bei Waterloo. Bremm sieht sich dezidiert nicht einer Kultur- oder Mentalitätsgeschichte der Schlacht, sondern einer Militärgeschichte im Sinne John Keegans [3] verpflichtet, in deren Zentrum das "Kämpfen und Töten" (235) steht. Im direkten Vergleich mit dem Band von Price fällt diese Engführung geradezu idealtypisch ins Auge: Während der gesamte Feldzug von 1815 mit der Schlacht bei Waterloo bei letzterem im Epilog lediglich zweieinhalb Seiten in Anspruch nimmt, handelt Bremm seinerseits die politische (Vor-)Geschichte des Feldzugs von 1815 in einem Kapitel auf neun Seiten ab. Beide Bände sind - aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln verfasst - mit Gewinn zu lesen. Sie vermitteln durch eine Erweiterung der Perspektive weg von der obersten, zentralen Führungsebene hin auch zu nachgeordneten politischen, regionalen und militärischen Ebenen eine differenziertere Sichtweise des Feldzugs von 1815 und des Scheiterns von Napoleon.
Anmerkungen:
[1] Albert Sorel: L'Europe et la Révolution Française, Bd. 8: La coalition, les traités de 1815, 1812-1815, Paris, 1904, 35.
[2] Thierry Lentz: Nouvelle histoire du Premier Empire, Bd. 2: L'effondrement du système napoléonien, 1810-1814, Paris 2004, 397.
[3] John Keegan: Die Schlacht. Azincourt 1415 - Waterloo 1815 - Somme 1915, München 1981.
Klaus-Jürgen Bremm: Die Schlacht. Waterloo 1815, Stuttgart: Theiss 2015, 256 S., 7 Kt., ISBN 978-3-8062-3041-3, EUR 24,95
Munro Price: Napoleon. Der Untergang. Aus dem Engl. von Enrico Heinemann und Heile Schlatterer, München: Siedler 2015, 464 S., ISBN 978-3-8275-0056-4, EUR 24,99
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