40 Jahre nach der Verkündigung des Mitbestimmungsgesetzes liegt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Gesamtschau über die Ausweitung betrieblicher Mitbestimmung in der Automobilindustrie seit 1945 vor. Das Untersuchungssample deckt - unter Verzicht auf BMW - mit den deutschen Konzernen Volkswagen und Daimler-Benz sowie den US-Töchtern Ford und Opel fast alle großen in Deutschland fertigenden Autobauer ab. Umfang und Qualität der vorhandenen Forschungsliteratur lässt diese Auswahl begründet erscheinen. Die betriebliche Mitbestimmung in derartig unterschiedlich strukturierten und gewachsenen Unternehmen über fast sieben Jahrzehnte zu untersuchen, stellt zweifellos eine beachtliche Leistung und Fleißarbeit dar. Der rote Faden liegt in der Fragestellung, welche Rolle die betriebliche Mitbestimmung beim Übergang vom fordistischen zum postfordistischen Produktionsregime spielte. Im Rahmen einer Soziologie der Herrschaft fußt die Arbeit auf dem Konzept der betrieblichen Sozialordnung. Damit soll einerseits das Verhältnis zwischen Betriebsräten, Vertrauensleuten, Gewerkschaften, Belegschaften und Managements, zum anderen deren Zusammenspiel als dialektisches und dynamisches Herrschaftsgefüge im firmenspezifischen, traditionalen Aushandlungskontext herausgestellt werden.
Chronologisch aufgebaut setzt nach einer Übersicht über die Entwicklung der Automobilindustrie bis zum Ende des 'Dritten Reiches' die Arbeit mit den gut erforschten betriebsrätlichen Tätigkeiten in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein. Die Verteilungsfunktion der Arbeitervertretungen als "Kartoffelbetriebsräte" prägte wie in allen anderen Branchen anfänglich auch deren Stellung in der betrieblichen Sozialordnung der Fahrzeugindustrie. Dass Volkswagen als ehemaliger DAF-Betrieb keine demokratische Tradition der Mitbestimmung kannte, wirkte sich dabei keineswegs negativ in der Entwicklung des Konzerns zu dem deutschen Mitbestimmungsmodell in der Automobilwirtschaft aus. Man kann es - neben dem VW-Gesetz und dem strukturbedingten Haustarifvertrag - als eine Voraussetzung für die spätere Bedeutung des VW-Betriebsrates kennzeichnen. Obschon auch bei Ford nach dem verfügungsrechtlichen Bruch im Nationalsozialismus die betriebsrätliche Repräsentanz gemessen an anderen Branchen gering ausgeprägt war, gelang es hier der IG Metall mit massivem Werbeeinsatz in den frühen 1960er Jahren, den Betriebsrat als starke gewerkschaftlich dominierte Mitbestimmungsinstanz zu verankern. Anders dagegen verhielt es sich bei Opel und Daimler, bei denen die Belegschaften und Gewerkschaft an ausgeprägte Vertretungs- und Kampftraditionen aus der Weimarer Republik anknüpfen konnten.
Den Dreh- und Angelpunkt der Studie bilden ausgehend von der Fragestellung die frühen 1970er Jahre, womit sich das Opus in die "Nach-dem-Boom"-Debatte einordnet. Nach der Mehrfachkrise der Automobilindustrie zwischen Überproduktion, gewandeltem Käuferverhalten und Veränderung der Rechtslage sowie Ölkrisen macht der Autor die Betriebsräte als "'Promotoren des Wandels' und der Innovationen" (280) zu neuen Produktionsformen aus, eines Wandels, der sich letztlich durch die gesamten 1980er Jahre hindurch zog. Eine klare Trennung zwischen Dienstleistungserwartung der Belegschaften und offensiver Gestaltungspolitik durch Flexibilisierungsstrategien zum Schutz von Standorten lässt sich jedoch für die gesamte Ära nicht erkennen. Vielmehr kann von einer pendelnden Anpassungsperiode betriebsrätlicher Politik vor dem Hintergrund der Internationalisierung, verschärfter Konkurrenz, Rationalisierungs- und Kosteneinsparungsbemühungen gesprochen werden. Doch reagierten die Betriebsräte nicht nur auf die verflochtenen Krisenerscheinungen. Wie Betriebsräte in anderen Branchen erlebten die Auto-Vertretungen ein personelles, gesellschafts- wie betriebspolitisches Revirement. Neue Generationen von Gewerkschaftern lösten alte "Betriebsratsfürsten" ab, womit die Aushandlung der Vertretungslegitimität neu justiert werden musste. Damit nahm nicht nur die Konfliktbereitschaft, sondern auch der Wille zu, aktiv am erfolgreichen Fortbestehen der Unternehmen mitzuwirken. Der offensive Gestaltungsanspruch, der sich in der fortschreitenden Professionalisierung der Betriebsratsarbeit äußerte, war auf einen aktiven Bildungsanspruch und kritisches Verständnis der neuen Generationen in den Betriebsräten zurückzuführen.
Die Eigenarten, mit denen die Betriebsräte bei diesem Wandel zu kämpfen hatten, hingen insbesondere von der Kooperationsbereitschaft der jeweiligen Unternehmensführungen ab. Hier spielten die Machtverteilung sowie die Governance-Strukturen in den untersuchten Konzernen die entscheidende Rolle, die das Gegen- und Zusammenspiel der betrieblichen Institutionen bei der Entwicklung zum Co- und/oder Gegenmanagement der Betriebsräte beim Wechsel des Produktionsregimes und der Standortsicherung bestimmten. Im Anspruch des Autors, die Arbeitnehmervertretungen als die treibenden Kräfte zu charakterisieren, um durch Qualitätszirkel, Gruppen- wie Teamarbeit den Wandel zu postfordistischen Produktions- und Arbeitsorganisationsformen durchzusetzen, wird die Gestaltungskraft der betrieblichen Interessenvertretungen überbetont. Gänzlich abgelöst wurden die fordistischen Strukturen nicht. Vielmehr ist die Produktionsordnung vom Mit- und Nebeneinander linearer und dezentraler Prozesse gekennzeichnet, wobei integrierte Auslagerungen an Subunternehmen und Zulieferer in der vorliegenden Darstellung für die Gegenwart noch stärker hätten betont werden können. Denn gerade hier wurden und werden den Steuerungsbemühungen der Betriebsräte und der Gewerkschaften zum Teil enge Grenzen gesetzt. Auch wenn ohne Zweifel eine ganze Reihe von Managern nicht oder nur allmählich die Lehren aus den Krisen der 1970er Jahren zogen und auf die aufstrebenden japanischen Konkurrenz reagierten, beruhte die betriebsrätliche wie gewerkschaftliche Expertise auf gleichen oder gleichartigen Beobachtungen und Erkenntnisprozessen, wie sie auch in den Konzernspitzen und der Beratungsbranche verbreitet war.
Zum Schluss kommt der Rezensent nicht umhin, einige Kritikpunkte an dieser ansonsten beispielhaften Gesamtdarstellung einfließen zu lassen. Der weitgehende Verzicht auf Primärquellen (in der Regel aus Gewerkschaftsprovenienz) führt dazu, dass häufig nur Absichten und Pläne von Betriebsratsinterventionen nachgezeichnet werden. Die zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen analysierten zumeist einen Ist- oder gewünschten Zustand. Um die Bedingungen bei der Umsetzung erfassen zu können, ist die breitere Auswertung einschlägigen Aktenmaterials unumgänglich. Eine weitere Folge dieser Materialauswahl ist die überwiegende Entpersonalisierung der Darstellung, was gerade auf der Mikroebene der betrieblichen Aushandlungsprozesse zu einer Akteursleere führt.
Zuletzt fallen zwei Desiderate in der als "Ausblick" gekennzeichneten Periode ab Mitte der 1990er Jahren auf. Die VW-Affäre (2005) über korruptive Verflechtungen zwischen Personalmanagement und Betriebsrat als Kontrolldebakel und krassester Ausdruck der Verselbständigung betrieblicher Kooperationspolitik fehlt völlig. Mit Blick auf die Expansion der westdeutschen Autobauer in die neuen Bundesländer wird die ostdeutsche Transformationskrise der 1990er Jahre ausgespart. Dabei wäre es besonders lohnenswert gewesen, die aus dem Boden gestampften Betriebsräte in der dortigen Automobilindustrie nach den Umbrucherfahrungen und im Standortausbau in die Untersuchung einzubeziehen. Das Verdienst dieser Studie ist es, den ambivalenten Anteil der betrieblichen Interessenvertretungen an den Anpassungs- und Modernisierungsprozessen in der Autoindustrie erstmals erfasst zu haben. Sie wäre auch für andere industrielle Branchen zu wünschen.
Dimitrij Owetschkin: Vom Verteilen zum Gestalten. Geschichte der betrieblichen Mitbestimmung in der westdeutschen Automobilindustrie nach 1945 (= Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung; Bd. 185), Bielefeld: transcript 2016, 378 S., ISBN 978-3-8376-3409-9, EUR 34,99
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