Die vorliegende Edition von Hans-Jürgen Bömelburg und Marlene Klatt bietet eine sorgfältig aufbereitete Sammlung von Quellen über das Leben der Deutschen in der polnischen Großstadt Lodz (Łódź) in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die vielfältigen Dokumente (Briefe, Berichte, Eingaben et cetera) liefern Einblicke in die unterschiedlichsten Bereiche des Alltags in der vom Deutschen Reich annektierten Stadt. Diese blieb trotz Holocaust, Abschiebungen und Vertreibungen bis zur Eroberung durch die Rote Armee im Januar 1945 eine überwiegend polnische und mit der beträchtlichen Anzahl ghettoisierter Juden praktisch dreigeteilte Großstadt.
Gleich einleitend sei vermerkt, dass die im Titel als "Deutsche Selbstzeugnisse" beschriebenen Quellen aus Lodz nicht in dem Sinne misszuverstehen sind, dass die Herausgeber von nationalen Eindeutigkeiten ausgehen. Im Gegenteil - wie sie selbst in der Einleitung darlegen, zeigen viele der ausgewählten Quellen das Leiden der Menschen einer ehemals "multinationalen Lebenswelt" mit den dabei immanenten Indifferenzen unter der im Nationalsozialismus und Krieg geforderten nationalen Eindeutigkeit (51).
Die ausgewählten Quellen sollen dabei die zentrale Frage des Bandes nach der Ausformung des konfliktreichen bis mörderischen Zusammenlebens mit Juden und Polen aus der Perspektive der deutschen oder nun zu Deutschen gemachten Bevölkerung beantworten (17). Auf den ersten 30 Seiten skizzieren Bömelburg und Klatt das Konzept der Edition, Historiografie und Forschungsstand sowie die Geschichte der Stadt im Zweiten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Einwohnerschaft. Kurz werden die Quellenform "Ego-Dokument" und die Auswahlkriterien vorgestellt. Die Herausgeber gehen davon aus, dass zwar keine Vollständigkeit, wohl aber eine Repräsentativität der Quellen für den Themenkomplex gewährleistet ist. Die vorliegenden Ego-Dokumente werden hierbei von nachträglich entstandenen "Erinnerungstexten" abgegrenzt, die nachvollziehbarerweise stark von dem Bruch 1945 geprägt sind und daher nicht aufgenommen wurden (16). In den zehn weiteren Kapiteln folgen die verschiedenen Quellentexte in einer chronologisch-thematischen Gliederung. Ein Personenregister beschließt den Band.
Zur Geschichte von Lodz und besonders zum gelegentlich idealisierten "multikulturellen Zusammenleben" im "Manchester Polens" liegen vielfältige Publikationen vor. Den letzten Jahren der Lodzer Deutschen wurde hingegen bisher im Detail wenig Aufmerksamkeit geschenkt, was die vorliegende Edition nun nachholen möchte. [1] Die Geschichte des Lodzer Ghettos kann im Gegensatz dazu als gut erforscht gelten. [2] Im Unterschied zu anderen "deutsch-polnischen" Städten des Untersuchungszeitraums wie Posen oder Kattowitz ist die Überlieferungssituation bei historischen Selbstzeugnissen in Lodz als gut zu bezeichnen (46). Daher liegt der Wert der Edition auch darin, durchaus generelle Aussagen zu den Deutschen in Polen im Zweiten Weltkrieg treffen zu können.
Wertvoll sind die sorgfältig edierten Quellen zusätzlich dadurch, dass in den Texten erwähnte Personen und Institutionen in den Anmerkungen einmal mehr, einmal weniger detailliert erläutert werden (zum Beispiel 77 f.) sowie einige Dokumente miteinander zusammenhängen. Die Quellen veranschaulichen darüber hinaus so bedeutende Forschungsfragen wie die nach Resistenz (vergleiche zum Beispiel 99 f.), Widerstand, Mitläufertum sowie Mitwirkung am Holocaust und an der Vertreibung der Polen. Besonders verstörend sind Zeugnisse des ganz banalen Ausräuberns sowie der Übernahme polnischer und jüdischer Wohnungen - häufig über einen einfachen Antrag an die lokale Administration (vergleiche zum Beispiel 263 ff.).
Die Fokussierung auf deutschsprachige Selbstzeugnisse ist zwar nachvollziehbar begründet, dennoch wünscht sich der Leser bisweilen den deutschen Blick ergänzende Quellentexte, so vor allem bei Berichten über die polnischen und jüdischen Bewohner. Dennoch ist die Entscheidung der Herausgeber vertretbar, sollte doch jedem fachkundigen Leser die Geschichte des Holocaust und der deutschen Besatzungszeit in Polen in Grundzügen vertraut sein.
Das Fehlen weiterer Perspektiven mindert den Wert dieser Edition nicht. Sowohl für Kenner der Geschichte der Deutschen in Osteuropa als auch für diejenigen, die damit weniger vertraut sind, ist es eine äußerst interessante Lektüre, die hoffentlich zu weiterer Forschung - wie von den Autoren angeregt und angekündigt - führen wird. Auch eine Übersetzung ins Polnische wäre zu wünschen. Die edierten Quellen eignen sich hervorragend als Übungsmaterial in Proseminaren und Tutorien.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierfür beispielsweise Jürgen Hensel (Hg.): Polen, Deutsche und Juden in Lodz 1820-1939. Eine schwierige Nachbarschaft, Osnabrück 1999. Für die Geschichte der wenigen verbliebenen Deutschen in Lodz nach 1945 vgl. den in derselben Schriftenreihe wie das hier besprochene Buch erschienenen Sammelband Monika Kucner / Krystyna Radziszewska (Hgg.): Fremde im gelobten Land. Zur Geschichte der Deutschen in Lodz nach dem Zweiten Weltkrieg, Osnabrück 2013.
[2] Vgl. u. a. Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006, und Krystyna Radziszewska: "Flaschenpost" aus der Hölle. Texte aus dem Lodzer Getto, Frankfurt a. M. 2011.
Hans-Jürgen Bömelburg / Marlene Klatt (Hgg.): Lodz im Zweiten Weltkrieg. Deutsche Selbstzeugnisse über Alltag, Lebenswelten und NS-Germanisierungspolitik in einer multiethnischen Stadt (= Polono-Germanica; 9), Osnabrück: fibre Verlag 2015, 320 S., ISBN 978-3-944870-00-7, EUR 48,00
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