In der heutigen Mediävistik erfreuen sich die Außenpolitik und internationale Diplomatie im Mittelalter großer Beliebtheit. Theoretische Überlegungen, welche die Problematik aus einer mittelalterlichen Sicht gegenüber neuzeitlichen und gegenwärtigen politikwissenschaftlichen Konzepten abzugrenzen versuchen, stehen zwar noch immer am Anfang, jedoch erscheinen nun zu diesem Thema erste Sammelbände und Monografien. Das hier rezensierte Buch lässt sich diesen Publikationen zuordnen. Es ist aus der langjährigen Forschung Sebastian Kubons erwachsen, der in den letzten Jahren zwei Regestenbände der Briefe aus den ältesten Registraturen der hochmeisterlichen Kanzlei veröffentlicht hat. [1]
Die Regierung des Hochmeisters Konrad von Jungingen (1393-1407) wird in der Historiografie einmütig als ein Höhepunkt der Ordensherrschaft betrachtet, weil der "Deutschordenstaat" - was auch immer man darunter verstehen mag - gerade zu dieser Zeit seine größte territoriale Ausdehnung im Baltikum erfahren hat. Paradoxerweise sucht man aber in demselben Zeitraum zugleich nach Ursachen für die bald darauf folgende Niederlage des Deutschen Ordens im sogenannten "Großen Krieg" mit der polnisch-litauischen Union 1409-1411. Dieser offensichtliche Widerspruch hat allerdings bislang die allgemein akzeptierte Hypothese, dass der Orden eine zielgerichtete und planvolle territoriale Expansionspolitik betrieben habe, nicht erschüttert.
Kubon bezweifelt diese Hypothese und stellt zwei grundsätzliche Fragen: Welche Ziele und Motivationen standen hinter dem Erwerb bestimmter Territorien, und ist im Handeln des Hochmeisters Konrad eine kohärente und langfristige politische Konzeption zu erkennen, die über die lediglich durch aktuelle und von außen kommende Herausforderungen ausgelösten Ad-hoc-Reaktionen hinausreichte?
Drei bedeutende territoriale Erwerbungen aus der Regierungszeit Konrads von Jungingen - Samaiten (Niederlitauen), Neumark und Gotland - gelten in der Forschung als Paradebeispiele einer bewussten Expansionspolitik des Ordens. Die Region Samaiten soll der Orden durch zielgerichtete Handlungen erworben haben, um mit ihr die so lange erstrebte Landbrücke zwischen den Besitzungen in Preußen und Livland zu schaffen. Diese Motivation lässt sich aber Kubon zufolge anhand der Quellen kaum belegen. Tatsächlich war Samaiten eine unaufgeforderte Schenkung des litauischen Herzogs Vytautas an den Orden. Als Gegenleistung verlangte er dessen Neutralität, um sich auf seine politischen Pläne in Osteuropa konzentrieren zu können. In den Planungen des Hochmeisters hingegen spielte Samaiten keine wesentliche Rolle; wichtig war ihm vielmehr die Christianisierung des Herzogs und Litauens zu den Bedingungen des Ordens. Zum Erwerb der Neumark wiederum wurde der Orden vom König von Ungarn, Sigismund von Luxemburg, durch diplomatischen Druck genötigt (1402). Der Hochmeister beugte sich dem Zwang und stimmte der Verpfändung dieses Territoriums durch den König zu, zumal die ernste Gefahr drohte, dass der polnische König die Neumark vom König von Ungarn kaufen könnte. Sicherlich handelte es sich hierbei kaum um einen gezielten Versuch, eine "Landbrücke" zu schaffen, die den Deutschordensstaat mit dem Gebiet des Reiches verbinden sollte. Das Gleiche gilt auch für die Verpfändung der Insel Gotland mitsamt der Stadt Visby (1398/99-1408). Gotland war keineswegs ein Brückenkopf der Ordensherrschaft in der Ostsee, sondern stellte lediglich eine Kompensation für die militärische Hilfe des Ordens gegen Piraten dar, die Handelsschiffe der Hanse bedrohten und damit auch die preußischen Städte Danzig, Elbing und Thorn schädigten.
Kubons Thesen weichen von den bisherigen Forschungsergebnissen so wesentlich ab, dass es unbedingt notwendig ist, diejenigen Quellen und Methoden aufzuzeigen, auf denen seine Argumentation beruht. Unvoreingenommen und viel präziser als andere vor ihm analysiert er den Inhalt der Friedensverträge (Sallinwerder 1398 und dessen Bestätigung in Racianz 1404) und der Pfandbriefe für Neumark und Gotland. Noch ertragreicher zeigt sich aber die Analyse der in der Forschung bisher nicht ausreichend berücksichtigten politischen Korrespondenz des Hochmeisters mit Herzog Vytautas, König Sigismund, Herzog Albrecht zu Mecklenburg, Königin Margaret von Dänemark, den Hansestädten sowie Amtsträgern des Ordens aus der Zeit vor und nach dem Erwerb der jeweiligen Territorien. Der Autor kann überzeugend darlegen, dass die dem Hochmeister zugeschriebenen Fähigkeiten zum strategischen Denken in der Außenpolitik und die Annahme, die territoriale Expansion sei planvoll und durchdacht gewesen, lediglich anchronistische Projizierungen moderner Ordenshistoriografie sind, die aber dem mittelalterlichen Denkmuster nicht entsprechen. Überdies steht diese nun als veraltet zu betrachtende Interpretation in grundsätzlichem Widerspruch zu den Quellenaussagen, aus denen sich ergibt, dass Konrad von Jungingen eher als ein durch die Politik anderer Akteure Getriebener betrachtet werden muss und nicht so sehr als jemand, der hinter den Kulissen die Fäden zog. Die territoriale Expansion des Ordens wurde, so paradox es klingen mag, nicht durch die starke Position des Hochmeisters, sondern vielmehr durch seine Schwäche gegenüber seinen politischen Partnern verursacht! Hatte aber der Orden einmal Rechtsansprüche auf ein Territorium erworben - sei es auf Grundlage eines Friedensvertrages (Samaiten) oder von Pfandbriefen (Neumark, Gotland) - verhielt er sich in der Folge wie ein typischer pflichtbewusster Landbesitzer des Mittelalters, der danach strebte, seine Ehre zu verteidigen, seine Rechtsansprüche nicht verletzen zu lassen und auch materiell nicht geschädigt zu werden.
In gewissem Widerspruch zum Buchtitel behandelt Kubon die Außenpolitik des Hochmeisters nicht in all ihren Facetten. Die technischen Aspekte der Ordensdiplomatie, wie die Zusammenstellung der Gesandtschaften und der Gebrauch der verschiedenen schriftlichen Unterlagen, werden fast völlig außer Acht gelassen, sofern sie sich nicht unmittelbar auf die beschriebenen Geschehnisse beziehen. Im Hinblick auf das gewählte Konzept, das in der Einleitung klar dargelegt wird, relativiert dieser kleine Mangel die Schlussfolgerungen des Autors jedoch keineswegs.
Das vorliegende Werk ist nicht nur eine ertragreiche Fallstudie zur Außenpolitik des Deutschen Ordens, sondern auch ein interessanter Beitrag zur allgemeinen Diskussion über die internationale Politik im Spätmittelalter solcher Autoren wie Dieter Berg, Martin Kintzinger, Sabine Wefers und Arnd Reitemeier, nicht zuletzt weil Kubon aufgrund der Analyse unbekannter Quellen und seiner präzisen Interpretation der politischen Korrespondenz bisher nicht erkannte Zusammenhänge der Außenpolitik des Ordens aufzeigt und damit zur Überprüfung bisheriger Forschungsergebnisse anregt.
Anmerkung:
[1] Sebastian Kubon / Jürgen Sarnowsky (Hgg.): Regesten zu den Briefregistern des Deutschen Ordens. Die Ordensfolianten 2a, 2aa und Zusatzmaterial. Mit einem Nachdruck von Kurt Lukas: Das Registerwesen der Hochmeister des Deutschen Ritterordens, maschinenschriftl. phil. Diss. Königsberg, Göttingen 2012; Dies. / Annika Souhr-Könighaus (Hgg.): Regesten zu den Briefregistern des Deutschen Ordens II. Die Ordensfolianten 8, 9 und Zusatzmaterial. Mit einem Anhang: Die Abschriften aus den Briefregistern des Folianten APG 300, R/LI, 74, Göttingen 2014.
Sebastian Kubon: Die Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Hochmeister Konrad von Jungingen (1393-1407) (= Nova Mediaevalia; Bd. 15), Göttingen: V&R unipress 2016, 367 S., ISBN 978-3-8471-0537-4, EUR 50,00
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