sehepunkte 17 (2017), Nr. 9

Friedrich Vollhardt / Oliver Bach / Michael Multhammer (Hgg.): Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit

Der Begriff Toleranz ist in unserer postsäkularen und vielfach multikulturell geprägten Gesellschaft brandaktuell und im öffentlichen Diskurs eng mit Fragen nach dem harmonischen Nebeneinanderstehen unterschiedlicher Kulturen, Überzeugungen und religiöser Identitäten verbunden. Die Herausforderung, die bspw. der islamische Fundamentalismus für sozialpolitische Diskussionen in Europa birgt, zeigt deutlich, wie konfliktreich die Suche nach einer Basis sein kann, auf der eine konfliktfreie Koexistenz verschiedener Glaubensrichtungen und ihrer Lebenspraxen möglich ist. Oft wendet man sich in diesem Kontext den Werken großer europäischer Denker zu, die Plädoyers für ein tolerantes Miteinander verfasst haben und rühmt ihre "Aktualität", geht jedoch nur selten über eine oberflächliche Rezeption der allgemeinen Begriffe hinaus. Historische Interpretationen der Schriften Voltaires, Lockes oder Lessings, welche die zeitlich bedingten Zusammenhänge sowohl der Entstehung als auch der Adaptation, Verschiebung und Interpretation ihrer Lehre in der longue durée herausarbeiten, bleiben dagegen oft am Rand der öffentlichen Diskussion. Das ist beispielsweise der Fall bei Lessings Forderung zur Toleranz im Bestseller Nathan der Weise: So oft seine Ringparabel in der gegenwärtigen Debatte herbeigerufen und gelobt worden ist, so tiefgreifend ist sie doch letztlich an postmoderne und säkulare Denkstrukturen angepasst und somit fast de-historisiert und letztendlich manipuliert worden.

Gerade an diesen Widerspruch knüpft der vorliegende Sammelband an, wenn er "Lessings Variationen und Verdichtungen von Problemstellungen, die aus den religiösen Kontroversen der Frühen Neuzeit erwachsen sind" (4) herausarbeitet und danach strebt, "die denkgeschichtlichen Voraussetzungen zu rekonstruieren, die für Lessings Nathan-Dichtung maßgeblich waren und seine Stellungnahme zu den zeitgenössischen Debatten motiviert haben" (6). Der von Friedrich Vollhardt, Oliver Bach und Michael Multhammer herausgegebene Band umfasst 13 Beiträge einer Münchner Tagung, die im Oktober 2013 stattgefunden hat. In deren Fokus steht weder eine Diskursanalyse im engeren Sinn - wie der Titel suggerieren könnte - noch eine rein historische Darstellung der Toleranzdebatten in der Frühen Neuzeit, wie sie in der Fachliteratur schon mehrfach abgebildet wurden. Der Sammelband versucht vielmehr die begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge in ihren interdisziplinären Denkkonstellationen zu erhellen und nimmt damit eine ideengeschichtliche Perspektive ein, die jedoch methodologisch als ein bisschen zu fliehend dargestellt wird. Nichts desto trotz bildet die Einleitung einen kohärenten Rahmen, der die versammelten Beiträge in dem Kontext der facettenreichen frühneuzeitlichen Toleranzparadigmen einordnet, die Lessings Lehre umringen und u.a. Humanismus, Skeptizismus, Pietismus sowie Fideismus umfassen.

Die Voraussetzungen der behandelten Toleranzproblematik thematisieren die ersten beiden Beiträge im Kontext des Ausbruches der Reformation und der aus ihr resultierenden konfessionellen Spaltungen. Jan-Dirk Müller befasst sich mit Erasmus von Rotterdam (11-41), dessen Toleranzlehre im Kern schon vor der Auseinandersetzung mit Luther umrissen wurde: Die humanistische Tradition und das Ideal des Urchristentums klammern alle (hochumstrittenen) dogmatischen Fragen aus und verorten die Wahrheit Gottes jenseits des menschlichen Verstandes. Damit verlieren die konfessionellen Streitigkeiten den Boden unter den Füßen, in den Vordergrund rückt dagegen die ethische Praxis, die pietas. Sie entspricht dem frommen Lebenshandeln, das das Heil versichert. Auf Erasmus' Grundüberlegungen beruft sich auch Sebastian Castellio, der mit seiner Schrift De haereticis an sint persequendi (1554) explizit in die frühneuzeitlichen Toleranzdebatten eingreift. Anhand einiger Textauszüge dieser berühmten Anthologie stellt Barbara Mahlmann-Bauer die rechtsgeschichtlichen Zusammenhänge der Haltung Castellios zur Ketzerverfolgung heraus. Ihre Textanalyse untermauert sie mit einer präzisen historischen Kontextualisierung (43-86). Wie man versucht hat, die Toleranz auch in der Praxis umzusetzen und um 1600 die Konfessionsspaltungen irgendwie zu überwinden, zeigt Klaus Garber am Beispiel einer irenischen Stiftungsurkunde aus dem Gymnasium Schoenaichianum zu Beuthen an der Oder (87-131).

Darauf folgen die Beiträge von Oliver Bach, der die Rolle des Naturrechts im Denken des Großvaters von Theophil, Gotthold Ephraim Lessing, vor dem Hintergrund der Debatte um Synkretismus diskutiert (133-159), und von Yves Bizeul, der Bayles "moderne, positive Sicht der Toleranz" (203) in engen Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Rationalismus setzt und einen wichtigen Exkurs zur Rezeption seines Denkens im frühneuzeitlichen Reich liefert (177-216). Auf einen weiteren, ebenso für Lessing unabdingbaren Vordenker der modernen Toleranz, nämlich Baruch de Spinoza, und auf seine kontroverse Rezeption richtet Holger Glinka den Blick (217-236). Ein ganz anderer Zugang zur Toleranzdebatte am Ende des 17. Jahrhunderts bietet schließlich der radikalpietistische Gottfried Arnold: Wilhelm Kühlmann illustriert seine "historiographische und intellektuelle Untermauerung der anstehenden Dissoziation von Lehre, Kirche, Frömmigkeit und politischer Regimentsführung" und hebt seine mystische Frömmigkeit hervor (161-176).

Sechs weitere Beiträge gehen dezidierter auf Johann Gottfried Lessing und sein Umfeld ein. In den Mittelpunkt rücken Lessing und seine Verteidigungsschrift für Luther gegen pietistisch gesinnte Kritiker des Reformators (Hanspeter Martin, 237-271), Johann Lorenz von Mosheim, seine Beschäftigung mit dem Fall Servetus und die Rezeption/Interpretation der Verteidigung von Sebastian Castellio in der Frühaufklärung (Michael Multhammer, 273-292), Ähnlichkeiten und Diskrepanzen der Toleranzparadigmen von La Mettrie und Lessing (Monika Fick, 293-330) oder von Voltaire, Lessing und Locke (Gideon Stiening, 331-362) sowie die Toleranzidee bei jüdischen Autoren wie Moses Mendelssohn, Salomon Maimon und Lazarus Bendaviv (Liliane Weissberg, 363-379). Der abschließende Beitrag von Friedrich Vollhardt schildert nochmals die Toleranzlehre Gotthold Ephraim Lessings, reflektiert kritisch über seine "Aktualität" und bettet sie in einen breiteren historischen und ideengeschichtlichen Kontext ein (381-415).

Die schwierige Balance zwischen akkurater historischer Kontextualisierung und ideengeschichtlich-synoptischem Blick gelingt in den einzelnen Beiträgen, die sich um die zentrale Rolle Lessings im modernen Toleranzdiskurs auf heterogener Weise versammeln, in unterschiedlichem Maße. Deshalb könnte gelegentlich der Eindruck entstehen, eine breitere vergleichende Synthese oder eine klarere methodische Einordung der Aufsätze wäre wünschenswert gewesen. Insgesamt gelingt es dem Band jedoch, die Entwicklung des Schlüsselbegriffes "Toleranz" in seiner gesellschaftlichen anstatt politisch-philosophischen Dimension durch die Zusammenführung von unterschiedlichen Autoren, Perspektiven, Epochen und Räumen deutlich zu machen und die Komplexität der Verhältnisse zwischen vorreformatorischen oder konfessionellen Debatten und aufklärerischer Paradigmenpluralität detaillierter als bisher zu hervortreten zu lassen.

Rezension über:

Friedrich Vollhardt / Oliver Bach / Michael Multhammer (Hgg.): Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit (= Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext; Bd. 198), Berlin: De Gruyter 2015, VI + 422 S., ISBN 978-3-11-044213-7, EUR 99,95

Rezension von:
Stefania Salvadori
Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel / Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Empfohlene Zitierweise:
Stefania Salvadori: Rezension von: Friedrich Vollhardt / Oliver Bach / Michael Multhammer (Hgg.): Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit, Berlin: De Gruyter 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de/2017/09/28153.html


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