Nur wenige dürften heute noch wissen, dass im 20. Jahrhundert ein Staat namens Südjemen existierte. Nach mehrfachen Umbenennungen firmierte er seit 1970 als Volksdemokratische Republik Jemen. Aller politisch geschärften Etikettierung zum Trotz konnte sich dieser Staat nicht einfach seiner Geschichte und Erblast entledigen. Es galt, eine seit mehreren Jahrhunderten stammesmäßig zerklüfte und von Sultanen und Emiren regierte Gesellschaft national zu einen und politisch zentral zu führen. Die Volksdemokratische Republik Jemen, ein wirtschaftlich schwaches, weitgehend unterentwickeltes Land, stand darüber hinaus vor anderen großen Herausforderungen: In geostrategisch entscheidender Lage, an der Verbindung zwischen Rotem Meer und Indischem Ozean gelegen, drohte nach dem Ende einer bewegten Geschichte unter britischer Kolonial- und Mandatsherrschaft eine fortgesetzte massive Einflussnahme Dritter - die ihre eigenen, zumeist wirtschaftlich-politisch motivierten Interessen durchzusetzen suchten. Denn die Grenzen des Ost-West-Konfliktes verliefen zwischen dem neuen, "volksdemokratischen" Südjemen und der prowestlichen nordjemenitischen Republik.
Nicht zu vergessen die beiden anderen antikommunistisch ausgerichteten arabischen Nachbarn dieses neuen Staates: Saudi-Arabien und das Sultanat Oman - mitsamt einer seit Jahrhunderten von Konflikten und Interventionen dominierten Beziehung zwischen diesen Akteuren beziehungsweise deren staatlich-territorialen Vorläufern. Ausgerechnet die DDR, der bis Anfang der 1970er Jahre international nicht anerkannte zweite deutsche Staat, verschrieb sich dem Ziel, die Volksdemokratische Republik Jemen national, wirtschaftlich und gesellschaftlich im Sinne des marxistisch-leninistischen Weltbildes anzuleiten und aufzubauen. Es ging Ost-Berlin um nichts Geringeres als um die Schaffung eines sozialistischen Musterlandes - dessen Ausstrahlungskraft den atheistischen politischen Glaubensprämissen des Kommunismus im Nahen Osten zum Durchbruch verhelfen sollte.
Den ostdeutsch-südjemenitischen Beziehungen, einem bis heute weitgehend unbekannten Kapitel der DDR-Außenpolitik, hat sich die Politikwissenschaftlerin Miriam Müller in ihrer 2014 abgeschlossenen und im Folgejahr veröffentlichen Dissertation gewidmet. Sie präsentiert mit ihrer Studie einen insgesamt versiert argumentierenden und gut geschriebenen Band. Wie es angesichts des fachlichen Hintergrundes der Autorin nicht verwundern kann, prägt Müllers Studie ein politikwissenschaftlicher Zugang, mit entsprechender methodisch-theoretischer Unterfütterung. Gegliedert ist die Darstellung in drei Großkapitel, wobei die jeweils gut 40 Seiten zählenden Teile A und C, der analytische Aufriss sowie die Zusammenfassung der Ergebnisse, den eigentlichen rund 270 Seiten umfassenden Analysepart umrahmen.
Die zentrale These des Buches lautet, dass der Fall des Südjemen exemplarisch den Ansatz eines "socialist state- and nation-building" (21) vor Augen führt und zugleich als eine Art Idealtypus der DDR-Außenpolitik gegenüber dem "Global South" gelten kann (26). Müllers Resümee ist hierbei eindeutig: Das erhoffte Experiment eines marxistischen Vorzeigestaates scheiterte, trotz des enormen politischen und vor allem finanziellen Engagements Ost-Berlins, spätestens Mitte der 1980er Jahre. "(N)either Moscow nor its East German henchman were able to fully control their supposedly homunculus regimes in the Global South." (351) Müller identifiziert hierfür im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen nennt sie den aufseiten der DDR auszumachenden marxistisch-leninistischen Dogmatismus, der zugleich zu Schematismus und einem ideologisch legitimierten politischen Sendungsbewusstsein führte. Sie urteilt sogar: "Without doubt, East German intentions in South Yemen had a 'neo-colonial' tinge to them and thus transgressed the boundaries of foreign policy acceptable under international law" (388). Zum anderen macht Müller eine Facette als Ursache des Scheiterns aus, über die der Leser gern mehr erfahren hätte: den Islam und die gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen. Denn das kommunistische Modell mitsamt seinen areligiösen Prämissen scheiterte im Südjemen maßgeblich aufgrund seiner mangelnden Attraktivität. Die ideologischen Gesetzmäßigkeiten und vermeintlichen Patentrezepte stießen rasch an Grenzen - und zwar sowohl kulturell-religiöser als auch traditionell-stammesmäßiger Art.
Wer eine klassische geschichtswissenschaftliche Untersuchung der Beziehungen zwischen der DDR und dem Südjemen erwartet, wird diese in Müllers Buch nicht finden, auch wenn die Autorin zahlreiche Aktenbestände eingesehen und ausgewertet hat. Mit gewisser Berechtigung könnte zudem eingewandt werden, dass eine rein bilaterale Darstellungsebene Gefahr läuft, wesentliche Konstanten und Entwicklungen der DDR-Nahostpolitik im Speziellen und der ostdeutschen Außenpolitik im Allgemeinen aus dem Blick zu verlieren. Einzuwenden bliebe darüber hinaus, dass die auf lediglich gut 60 Seiten dargestellte Entwicklung des Verhältnisses zwischen Ost-Berlin und Aden in den entscheidenden 16 Jahren vor dem Putsch im Südjemen 1986 zu knapp bemessen sind, nicht zuletzt in Anbetracht der sehr ausführlichen Rekapitulation hierzulande gut bekannter Debatten und Ergebnisse zur Außenpolitik der DDR. Aber all diesen Monita gegenüber steht das Verdienst, gewohnte Forschungsperspektiven gewechselt und den Komplex des ostdeutsch-südjemenitischen Verhältnisses in einen größeren - primär das englischsprachige Publikum adressierenden - politikwissenschaftlich-theoretischen Kontext gerückt zu haben, indem er als "socialist state- and nation-building" gefasst wurde.
Miriam M. Müller: A Spectre is Haunting Arabia. How the Germans Brought Their Communism to Yemen, Bielefeld: transcript 2015, 440 S., ISBN 978-3-8376-3225-5, EUR 39,99
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