Die festive Euphorie anlässlich des Reformationsjubiläums entlud sich schwerpunktmäßig und öffentlichkeitswirksam auf einigen großen Bühnen, die sicher nicht alle von sich behaupten können, im 16. Jahrhundert für die Entwicklung oder den Verlauf der Reformation eine beachtenswerte Rolle gespielt zu haben, wenn sie denn überhaupt irgendeine Rolle gespielt haben. Nun bemisst sich die Bühnentauglichkeit bestimmter Städte und Regionen im Kontext der Jubiläumsfeierlichkeiten sicher nicht (allein) an ihrer reformatorischen Tradition und Historie. Gleichwohl stellte und stellt einen bedauerlichen Nebeneffekt von bewusster Lutherzentrierung und getroffener Bühnenwahl die Tatsache dar, dass einige wirkmächtige Zentren der Reformationsgeschichte in der öffentlichen Wahrnehmung nahezu völlig aus dem Blick geraten sind. Dass und warum jedoch gerade die Polyzentrik der Reformation maßgeblich zu ihrer Dynamik beigetragen und so einer neuen Gestalt westlichen Christentums ihren besonderen Charakter verliehen hat, verdeutlicht auf gelungene Weise der hier anzuzeigende Band, der sich einer Tagung verdankt, die 2014 in Landau stattfand. Er umfasst neben einer Einleitung der Herausgeber 25 Aufsätze in drei Sektionen. Dabei sind 9 Beiträge der ersten Sektion "Machtverhältnisse in Reich und Religion" (6-193), 5 der zweiten Sektion "Bildungslandschaft" (195-294) und schließlich die verbleibenden 11 der dritten Sektion "Strategien und Konflikte in den reformatorischen Auseinandersetzungen" (295-464) zugeordnet. Den Band beschließen ein Personenregister, ein Register geografischer Bezeichnungen und ein Autorenverzeichnis (465-480). Beigegeben sind ihm 16 Schwarz-Weiß-Abbildungen durchweg brauchbarer Qualität (123-128; 243-252) sowie einige Tabellen (274-277; 281; 405).
"Eine der Landschaften, die über Jahrhunderte hinweg, aber eben in besonderer Weise auch in der Reformationszeit Wandlungsprozesse mit vollzogen und beflügelt hat, ist die Oberrhein-Region. Diese Landschaft wird im Folgenden entlang des Flussverlaufs etwa zwischen Konstanz, Basel und Mainz verortet, in der Ausdehnung von Westen nach Osten in etwa von den Vogesen und dem Pfälzer Wald bis zur Schwäbischen Alb und dem Kraichgau" (1). Dass der so gefasste Raum gleich mehrere prominente Schauplätze der Reformationsgeschichte umfasst, bedarf kaum der Erwähnung. Doch bleibt der Band in seiner Anlage nicht auf der regionalgeschichtlichen Ebene stehen, so kostbar diese für die Erschließung des reformationshistorischen Profils des genannten Raums auch ist: "Die Spezifik dieses Bandes liegt darin, systematisch das Verhältnis der regionalen Reformationsgeschichte (im Sinne vieler Landesgeschichten) zu der Reichs- und der europäischen Reformationsgeschichte auszuloten" (4).
Passend dazu eröffnet die europaweite Überblickstudie zur "Einführung der Reformation im internationalen Bereich" (9) von Eike Wolgast die erste Sektion. "Die Reformation war ein geschichtlicher Vorgang, der eine tiefe Zäsur zwischen Bisherigem und Neuem herbeiführte - das gilt trotz aller Kontinuitäten, die das 16. Jahrhundert unbestreitbar mit dem Spätmittelalter verbinden. Der durch die Reformation verursachte Grabenbruch erstreckte sich sowohl auf den kirchlich-theologischen Bereich wie auf den politisch-gesellschaftlichen Bereich" (ebd.). Dieses In- und Miteinander beider Bereiche führte je nach Territorium und Zeitphase strukturbedingt zu spezifischen Dynamiken bei der Einführung der Reformation, wie Wolgast exemplarisch und in mustergültiger Kombination von syn- und diachroner Perspektive herausstellt. In den folgenden Beiträgen wird der Fokus dann enger eingestellt, indem nun der Oberrhein in den Mittelpunkt rückt: Anhand verschiedener problemgeschichtlicher Zugriffe werden ausgewählte Protagonisten, Organisationsformen und Herrschaftsräume untersucht, wobei sich vor dem Hintergrund der machtpolitischen und rechtlichen Großwetterlage Propria der Reformationsgeschichte der Oberrhein-Region genauso feststellen lassen wie Strukturanalogien zu anderen Gebieten im Reich und in Europa.
Diese Zusammenführung von Mikro- und Makroperspektive setzen dann auch die Aufsätze der zweiten Sektion fort, die bildungs-, institutionen-, medien- und theologiegeschichtliche Fragen und Phänomene ausleuchten. Einleitend widmet sich Christoph Strohm der Universität Heidelberg als einem "Zentrum der späten Reformation" (197) und geht besonders der "Frage nach charakteristischen Kennzeichen der für die Reformation wirkenden Gelehrten der Universität" nach (ebd.). Diese Fokussierung erlaubt es, die europaweite Einbindung und Ausstrahlung prominenter Gelehrter der Kurpfalz in ihrem charakteristischen theologischen Profil vorzustellen, ohne dabei eingeschliffenen Narrativen wie dem von der "Pfälzischen Irenik" unkritisch zu folgen (202-204). Die politischen Konstellationen, intellektuellen Verflechtungen und konfessionellen Positionierungen formieren dann auch den Hintergrund, vor dem am Oberrhein die "Gestaltung von Bildung in der Bürgerschaft" (215) in Form von Schul- und Universitätsgründungen genauso zu verstehen sind wie die Einrichtung von Institutionen zur Mädchenbildung. Als besonders breitenwirksame Medien fungierten in diesem Kontext Flugschriften und Katechismen, die beide auch in der Oberrhein-Region Konjunktur hatten und entsprechend prägende Aufnahme fanden. Jedenfalls wird mutatis mutandis für beide Gattungen festzuhalten sein, was Susanne Schuster bezüglich der Flugschriftenproduktion attestiert: Das Bestreben, eine möglichst breite Leser- und Hörerschaft zu erreichen, war inhaltlich-argumentativ bedingt "durch das theologische Konzept des allgemeinen Priestertums, das den 'gemeinen Mann' in einigen Schriften der frühen Reformationszeit zum Hauptakteur werden ließ" (284).
Die dritte und letzte Sektion befasst sind mit den Strategien zur Durchsetzung der Reformation sowie mit den daraus resultierenden Konflikten. Persönlichkeiten wie Martin Bucer und Jakob Sturm finden - unter der Prämisse des unentwirrbaren In- und Miteinanders von Macht und Religion, von Politik und Kirche im 16. Jahrhundert - als Akteure Beachtung, die sich mit wechselndem Erfolg für die Durchsetzung der von ihnen für wahr und richtig gehaltenen Predigt des Evangeliums nach reformatorischem Verständnis einsetzten. Die damit zusammenhängenden Desiderate bleiben im Bewusstsein, denn "klar ist, dass die Erarbeitung des theologischen und politischen Vermächtnisses des Straßburger Reformators eine Aufgabe bleibt, die längst noch nicht abgeschlossen ist", wie Steven E. Buckwalter mit Blick auf Bucer erklärt (315). Bemerkenswert sind auch die Studien, die sich mit Herrschaftsgebieten am Oberrhein beschäftigen, in denen sich die Reformation nicht, nur zum Teil oder mit erheblichen Schwierigkeiten durchsetzen konnte, eben weil sie pointiert die Vielfalt und das komplexe Zusammenwirken der Faktoren vor Augen stellen, von denen religions- oder konfessionspolitisches Handeln bzw. dessen Erfolg abhing. Gerade die Wahrnehmung von sowie der Umgang mit den reformatorischen Neuaufbrüchen und den in ihnen wurzelnden Herausforderungen auf der Ebene geistlicher Obrigkeiten in den Bistümern Mainz, Worms, Speyer, Straßburg, Konstanz oder Basel sind hier aufschlussreich. Während kirchliche Reformschritte und politisches Taktieren die wesentlichen Mechanismen waren, reformatorische Umtriebe abzuwehren oder niederzuhalten, konnten Vogteirechte umgekehrt als Hebel für den Versuch fungieren, in geistlichen Herrschaften oder kirchlichen Institutionen die Reformation durchzusetzen. Gerade bei diesem Thema, dem sich Jochen Kemper mit seinem Beitrag stellt, wird die Bedeutung spätmittelalterlicher Phänomene für die sachgemäße Einordnung der kirchenpolitischen Geschehnisse des 16. Jahrhunderts deutlich (vgl. z.B. 387-389). Dass die Sektion auch luzide Aufsätze zum Bauernkrieg, zur Protestation von Speyer in ihrer anti-täuferischen Stoßrichtung, zu Hexenprozessen im Allgemeinen sowie zur Verstrickung des Oberrheins in die diplomatischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Häusern Valois, Habsburg und Wettin umfasst, sei abschließend wenigstens noch erwähnt.
Insgesamt festzuhalten bleibt: In seinem klugen Aufbau, mit seinen erhellenden, Forschungsstände bündelnden sowie Desiderate aufzeigenden Beiträgen und dank seines methodischen Ansatzes, der regionale und europäische Perspektiven miteinander in ein fruchtbares Gespräch bringt, kommt der vorliegende Sammelband als Referenzpunkt sicher nicht nur für künftige Forschungen zur Reformationsgeschichte der Oberrhein-Region zu stehen. Jedenfalls bleibt ihm eine reiche wissenschaftliche Rezeption zu wünschen, auch und gerade im Kontext der interdisziplinären Erschließung der reformationsgeschichtlichen Bedeutung anderer, sicher nicht minder vielseitiger und interessanter Regionen.
Ulrich A. Wien / Volker Leppin (Hgg.): Kirche und Politik am Oberrhein im 16. Jahrhundert. Reformation und Macht im Südwesten des Reiches (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 89), Tübingen: Mohr Siebeck 2015, VII + 480 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-16-153951-0, EUR 99,00
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