Curt Mast (1897-1970), der die Likörmarke "Jägermeister" erfunden und zum Erfolg gebracht hat, war fast 50 Jahre lang auch kommunalpolitisch tätig in Stadt und Landkreis Wolfenbüttel. Der Familienbetrieb Mast-Jägermeister SE, hervorgegangen aus einer 1878 gegründeten kleinen Essigfabrik und heute im Besitz der 5. Generation, hat den Göttinger Historiker Thomas Klingebiel, dessen bisherige Veröffentlichungen die Frühe Neuzeit betreffen, mit einer politischen Biographie des erfolgreichen Unternehmers betraut. Im Mittelpunkt stehen dabei die Frage nach Masts politischer Tätigkeit im 'Dritten Reich' und die Frage, ob der Name des Likörs auf Hermann Göring verweist. Der Likör hieß zunächst "Hubertusbitter", worauf das noch heute verwendete Signet verweist, und wurde erst Ende 1934 umbenannt, kurz nach dem Erlass des Reichsjagdgesetzes, das die Ämter Kreis- und Gaujägermeister und für Göring den Titel "Reichsjägermeister" schuf.
Dass Klingebiel eine größere Anzahl von Dokumenten aus dem Firmenarchiv nicht kennt, die der Rezensent 2002 für eine (unveröffentlichte) Firmengeschichte auswerten konnte, führt zu einer wenig verlässlichen Darstellung vor allem von Masts früher Zeit. Zu den wichtigsten Quellen der Lokal- und Regionalgeschichte der Neuzeit gehören die Zeitungen. Klingebiel hat die "Wolfenbütteler Zeitung" nicht berücksichtigt. So entgeht ihm eine Ankündigung vom 4. Mai 1933: "Das neue Stadtparlament, das heute um 17 Uhr zum ersten Male nach der Gleichschaltung zusammentritt, hat nun doch ein anderes Gesicht bekommen [...]: es werden nur Braunhemden erscheinen." Curt Mast, der am 13. April eine Kandidatenliste DVP/Zentrum eingereicht hatte und auf den ein Sitz in der Stadtverordnetenversammlung gefallen war, weil die KPD verboten war und die SPD-Vertreter durch Verhaftung an der Einreichung ihrer Liste gehindert worden waren, hatte das Braunhemd übergestreift und stimmte am 4. Mai mit seinen NS-Fraktionsgenossen dafür, Adolf Hitler die Ehrenbürgerschaft anzutragen. Klingebiel schreibt: "Als einziger bürgerlicher Stadtverordneter konnte er freilich keine Fraktion bilden, sondern war nach der Geschäftsordnung genötigt, sich als Hospitant der NSDAP anzuschließen." (107) Woher bezieht Klingebiel die Überzeugung, Mast sei nur "Hospitant" gewesen? Aus einer Erklärung Curt Masts vom 3. Oktober 1945! Das wirft die Frage nach Klingebiels Umgang mit Quellen auf.
Die Akte StA Wolfenbüttel 3 Nds. 840/9 vom 3. Oktober 1945 besteht aus zwei Dokumenten: dem "Politischen Fragebogen", auf dem Mast die Frage nach seiner NSDAP-Mitgliedschaft mit "Ja, aber siehe Anlage" beantwortete, und dieser ausführlichen Anlage. Klingebiel zitiert die Anlage nicht, er paraphrasiert sie; ein Beispiel: "Schließlich konnte er anführen, mit regimefeindlichen Kräften in Kontakt gestanden und ihnen notfalls auch geholfen zu haben." (189) Mast schrieb: "Im übrigen stand ich im geheimen jahrelang mit im Mittelpunkt einer Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus, habe unter ständiger Gefahr aufklärend gewirkt und den politisch Bedrängten und Verfolgten jede nur mögliche Hilfe und Unterstützung gewährt." Am Schluss seiner "Anlage" nannte Mast 9 Männer, die für die Richtigkeit seiner Behauptungen zeugen könnten. Klingebiel nennt 5 dieser Namen, bezeichnet sie als "Fürsprecher" und erweckt so den Eindruck, als hätten sie Masts Aussagen bezeugt (189). Das ist nicht der Fall; einzig der Sozialdemokrat Otto Rüdiger, der Mast verpflichtet war, hat auf dem Fragebogen den vorgedruckten Satz: The statements on this form are true unterschrieben. Dennoch übernimmt Klingebiel fast alle Schutzbehauptungen Masts in weniger unwahrscheinlicher Fassung.
Klingebiel scheint sich nie mit der Entnazifizierung beschäftigt zu haben, die er im Falle Mast für eine Schikane hält: "Während die linken Stadträte Wolfenbüttels als ausgewiesene Gegner des NS-Regimes keine Mühe hatten, die Freigabe für ein politisches Amt zu erhalten [...], sah sich Curt Mast einer für ihn peinlichen Prozedur ausgesetzt: Er musste glaubhaft machen, dass er trotz seiner formalen Zugehörigkeit zur NSDAP zu den regimekritischen, ja besser noch zu den oppositionellen Kräften gezählt hatte." (188) "Glaubhaft machen" verlangt den Konjunktiv; der Indikativ zeigt, wie sehr sich Klingebiel auf Masts Strategie einlässt. Er nennt Masts "formale" Parteimitgliedschaft an anderer Stelle "noch nicht formalisiert" und "Schwebemitgliedschaft" (112) und verschweigt die NSDAP-Mitgliedsnummer 3.183.016, unter der Mast rückwirkend ab dem 1. Mai 1933 geführt wurde. Mast gab an, er habe als Stadtverordneter "1/34" zurücktreten müssen und ihm seien politische Tätigkeiten verboten worden. Klingebiel weiß, dass Mast 27 Monate lang, also bis August 1935, Stadtverordneter und zeitweise Mitglied des Hauptausschusses war, meint aber, dann sei Mast entlassen worden, weil er Freimaurer war (110). Tatsächlich hatte sich Mast im Februar 1935 aus der Loge ausschließen lassen, um Stadtverordneter bleiben zu können. Außerdem schied nicht Mast aus dem Stadtparlament aus, sondern das Selbstverwaltungsorgan wurde aufgelöst.
Trotz vieler Fußnoten zitiert Klingebiel selten und kaum jemals ganze Sätze. Um zu belegen, dass Mast nach 1945 unter dem "alles beherrschende(n) Eindruck" gestanden habe, "angesichts der NS-Diktatur aufs Ganze gesehen versagt zu haben", zitiert Klingebiel - nicht Mast, sondern einen anderen CDU-Politiker (420). Dass Mast sich "der Verantwortung, die er in der NS-Zeit auf sich geladen hatte, stellen wollte" (420), sieht Klingebiel auch in seiner 1945 opportunen Restitutionsbereitschaft. 1941 erwarb Mast vom Reich ein großes Anwesen, das die jüdischen Brüder Esberg unter Verlust hatten verkaufen müssen, um ihre Flucht ins Ausland zu finanzieren. Da er nur an den Wirtschaftsgebäuden interessiert war, stellte Mast zwei Stockwerke des Wohnhauses der NSDAP zur Verfügung, die im Gegenzug den wegen eines Kriegswirtschaftsvergehens zu 9 Monaten Gefängnis verurteilten Mast begnadigen ließ. Es versteht sich, dass die NSDAP das Haus nur "judenfrei" übernahm. Klingebiel hält es für nötig, mitzuteilen, dass die verbliebenen älteren Verwandten der Esbergs auch dann in die Vernichtungslager verbracht worden wären, wenn sie im Haus hätten bleiben können (172). Mast erklärte sich im November 1945 bereit, die überlebenden Esbergs zu entschädigen. Klingebiel berichtet das unter der Überschrift: "Wiedergutmachung unter ehrlichen Kaufleuten" (369). So hat das Mast wahrscheinlich auch gesehen: er zahlte, was er schuldig war und war die Schuld los.
Die Heldentat, die Masts politische Nachkriegskarriere erst ermöglichte, stellt Klingebiel vor ein Problem. Otto Rüdiger, ehemaliger SPD-Ortsvorsitzender und Stadtrat, kam 1938 wegen "Parteibildung" für mehrere Monate in Untersuchungshaft. Nach seiner Freilassung stellte Mast ihn in seinem Kontor ein und gab ihm eine Wohnung im "Stammhaus". Nach dem 20. Juli 1944 wurde Rüdiger erneut festgenommen und ins KZ Sachsenhausen verbracht. Mast setzte sich mutig für seinen Angestellten ein und erreichte seine Freilassung. In diesem Zusammenhang schrieb er drei Briefe an einflussreiche NS-Funktionäre. Klingebiel zitiert sie nicht, denn sie passen nicht in sein Konzept. Erstens geht aus ihnen hervor, dass da Parteimitglied an Parteimitglied schrieb. Zweitens schrieb Mast, mit den früheren Braunschweiger SS- und Polizeiführern Jeckeln und Pancke sei er "freundschaftlich verbunden. Der erste Besuch im Lande gilt mir. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, unter deren Regierungszeit eine solche harmlose Sache mühelos durchzubiegen." (StA Wolfenbüttel, 306 N Nr. 3) Klingebiel behauptet, er habe eine "Netzwerkanalyse" durchgeführt, "um wiederholt unterstellte Beziehungen Masts zu [...] Friedrich Jeckeln zu prüfen" (14). Deshalb berichtet er nur, dass Mast sich "auf seine guten Beziehungen zu den Braunschweiger SS- und Polizeiführern berufen" habe, ohne deren Namen zu nennen (169). Jeckeln hatte im Juli 1933 elf Wolfenbütteler Arbeiter und einen ehemaligen Kollegen Masts aus der Stadtverordnetenversammlung ermorden lassen und wurde 1946 als Mitorganisator des Holocaust in der Sowjetunion hingerichtet.
Von 1919 bis 1936 betrieb Curt Mast die Firma gemeinsam mit seinem älteren Bruder Wilhelm. Durch Übernahmen verschuldete sich das Unternehmen so tief, dass Kredite nicht mehr bedient wurden und Steuern überfällig waren. Ein reicher Verwandter bot eine rettende Beteiligung an, unter der Bedingung, dass Wilhelm ausscheide. Als Wilhelm sich weigerte, wurde ihm mit einer Denunziation wegen "Rassenschande" gedroht. Da Curt Mast diese Drohung zuließ, muss Klingebiel eine zustimmungsfähige Motivation ersinnen: Die Funktion dieser Drohung bestand "offenbar" darin, "Wilhelm Mast vor Augen zu führen, dass er durch sein Verhalten Gefahr lief, neben dem Rückhalt im Verwandtenkreis auch Frau und Kinder zu verlieren" (119).
In einem Punkt ist Klingebiel zuzustimmen: Mast war kein Politiker, sondern "Ein Unternehmer in der Politik". Er war immer dort politisch tätig, wo es für sein Unternehmen nützlich war. Er trat 1923 nicht aus Begeisterung für die Politik Stresemanns der DVP bei, sondern weil sie die Partei des Bürgermeisters Eyferth war, der ihn seit 1918 gefördert hatte, der ihm auch den Zugang zur Freimaurerloge, dem old boys network der Stadt, eröffnete und mit dem er lebenslang verbunden blieb. Das Dokument, mit dem Mast 1947 endgültig in die Gruppe V (Widerstand) eingereiht wurde, trägt die Unterschrift Eyferths. Mast war 1933 nicht plötzlich überzeugter Nationalsozialist; er blieb nur der Macht nahe und wollte weiter mitgestalten, als Unternehmer und Haus- und Grundbesitzer. Es gibt keine antisemitische Äußerung von Curt Mast. Den Krieg hat er nicht begrüßt, aber er hat an ihm verdient, denn ab 1939 war die Wehrmacht Hauptabnehmer seiner Spirituosen. Er war kein Täter, aber ein unerschütterter Zeuge und Profiteur von Verbrechen. Den Besatzungsbehörden stellte er sich im April 1945 vielleicht aus Verantwortung für die Stadt zur Verfügung, aber auch, weil er Schutz vor Plünderungen und einen zahlungskräftigen Großkunden brauchte. Auch der CDU trat er nicht aus Überzeugung bei, sondern weil einflussreiche Bekannte ihm die Chance boten, weiterhin politisch zu wirken. Als bürgerlicher Fraktionsführer machte er den Sozialdemokraten Rüdiger zum Bürgermeister - und setzte ihn ab, als er eine bürgerliche Mehrheit organisieren konnte. Wenn es für Masts politische Tätigkeit neben seinen Geschäftsinteressen ein Motiv gab, so war es eine echte, wenn auch kleinräumig bornierte Liebe zur Heimat, zur "Vaterstadt". Mast war ein Opportunist ohne große Skrupel. Klingebiels Fleißarbeit dient der Apologetik, nicht der Wahrheitsfindung.
Thomas Klingebiel: Curt Mast. Ein Unternehmer in der Politik, Göttingen: Wallstein 2017, 454 S., 47 Abb., ISBN 978-3-8353-3056-6, EUR 24,90
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.