Innerhalb der umfangreichen Exempelliteratur zisterziensischer Provenienz kommt dem Liber visionum besondere Bedeutung zu. Entstanden in den 70er Jahren des 12. Jahrhunderts, präsentiert er sich als ausgesprochen aussagekräftige Quelle für die Geschichte und Spiritualität der zisterziensischen Frühzeit, aus der insbesondere Konrads von Eberbach Exordium magnum einige Jahrzehnte später schöpfen sollte. Der in zahlreichen Handschriften überlieferte Text wurde im 17. Jahrhundert von dem Jesuiten Pierre-Francois Chifflet ediert. Diese Textfassung wurde von Jean-Paul Migne in seine Patrologia Latina übernommen. Inzwischen ist die Forschung weitergegangen: insbesondere Bruno Griessers (†1965) wegweisende Forschungen haben gezeigt, wie sehr viel komplexer sich die Handschriftenüberlieferung präsentiert. Der österreichische Zisterzienser starb über seiner Arbeit: der Liber des Erzbischofs von Torres blieb deshalb unediert, bis sich eine sinnigerweise "Herbertus" betitelte Forschergruppe konstituierte, um aufbauend auf den Vorarbeiten Griessers das Großprojekt einer Neuedition in Angriff zu nehmen.
Dabei galt es zunächst, die Handschriftensituation zu klären. Die Ergebnisse dieser Sichtung liegen in detaillierten Handschriftenbeschreibungen vor (XII-LIV), die zwischen drei Handschriftenfamilien, genauer einem bayerisch-österreichischen (13 Ex.), "preussischen" (4 Ex.) und französischen (8 Ex.) Zweig, unterscheiden. Hinzu treten nicht ganz klar zuzuordnende Textzeugen (2 Ex.). In Ermangelung eines originalen Titels in den Handschriften entschieden sich die Herausgeber für einen Titel, der die beiden zentralen Inhalte der Sammlung widerspiegelt: visiones und miracula. Diese Wahl überzeugt nicht zuletzt auch deshalb, weil die Schrift in Clairvaux selbst wohl als Liber miraculorum zirkulierte (vgl. LV).
Über den Autor der Sammlung, Herbert, ist nur wenig bekannt. Ob er tatsächlich im Königreich León geboren wurde, ist unklar. Sicher aber ist sein Eintritt in das Kloster von Clairvaux unmittelbar nach dem Tod Bernhards (1153) und seine Wahl zum Abt von Mores (Diözese Langres) Ende der 60er Jahre. Über sein Wirken als Abt haben sich freilich keinerlei Informationen erhalten. Spätestens ab 1178 zurück in Clairvaux, wirkte er dort nicht nur als Kaplan Heinrichs von Marcy (bis zu dessen Erhebung zum Kardinal 1179), sondern verfasste auch seinen Liber visionum. Nach seiner Ernennung zum Erzbischof des sardischen Torres, die 1180/1181 erfolgte, hätte er dazu wohl schwerlich noch Zeit und Muße gefunden. Zisterzienserbischöfe fanden sich des Öfteren an der Peripherie - und zur Peripherie gehörte Sardinien insofern, als man damit rechnete, dort auf ritus barbaros und eine unverständliche Sprache zu treffen. Kulturelle Strahlkraft erwartete man weniger. Die Wahl war vielleicht auch deshalb auf den Zisterzienser aus Clairvaux gefallen, weil er im Dauerstreit zwischen Pisa und Genua, der auch auf der Insel ausgetragen wurde, super partes stand. Gleich wie in Mores ist auch von Herberts erzbischöflichem Wirken in Torres so gut wie nichts bekannt - Urkunden scheinen sich nicht erhalten zu haben. Der Tod erfolgte vor 1196.
Herbert konnte bzw. wollte sein Werk nicht überarbeiten und ihm den letzten Schliff geben. Das Original des Liber kann wenig mehr als eine Arbeitshandschrift, bestehend aus unterschiedlichen Heften, evtl. auch einzelnen Blättern, gewesen sein, der im Laufe der Zeit immer wieder Dinge hinzugefügt (oder entnommen) wurden. Herbert selbst sprach vom Liber als einem opusculum (cap. 110) bzw. codicellum (cap. 152). Die Editoren schlussfolgern überzeugend, dass sich die Tradition "aperta" präsentiere, "suggerendo che Herbertus abbia lasciato a Clairvaux una copia di lavoro che non fu mai definita." (LXXVII) Dies machte die Herstellung eines kritischen Textes nicht eben einfach. Erklärtes Ziel war es, im edierten Text etwas vom offenen Charakter dieses Werks widerzuspiegeln und nicht den Eindruck zu vermitteln, man könne ein hypothetisches Original rekonstruieren (zum rekonstruierten Stemma vgl. XCXI).
Der Blick richtete sich, anders als bei Chifflet, der seiner Edition lediglich zwei Handschriften des französischen Zweigs, die jetzt als "seconda redazione" (LXXXVII) klassifiziert wird, zugrunde legte, nun auf die sehr viel umfangreicheren, ausnahmslos im deutschen Sprachraum überlieferten Textzeugen. Die Wahl fiel dabei wohlbegründet vor allem auf drei Handschriften aus München (Staatsbibliothek Clm 2607), Heiligenkreuz (Stiftsbibliothek, 177) und Rein (Stiftsbibliothek, 69), wobei derjenigen aus München aufgrund der Stellung als antiquissimum besondere Bedeutung zukam. Die Editoren übernahmen dabei die Kapitelzählung der Münchener Handschrift, die 165 Einheiten umfasst. In einem Weimarer Textzeugen (Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Fol. max. 3) fanden sich weitere ergänzende Exempla, die als Corpus Pseudo-Herbertianum ebenfalls mitediert wurden (299-318).
Das im Liber aufgenommene Material ist wohl mündlichen Ursprungs. Herbert sammelte das, was seine Mitbrüder ihm berichteten - und griff nicht etwa auf die Erzählungen in älteren Exempelsammlungen zurück. In 67 Kapiteln (von 165) verweist Herbert direkt auf eine mündliche Quelle, in weiteren deuten sprachliche Marker auf eine mündliche Vermittlung hin. Der Rückgriff auf Geschichtsquellen, insgesamt sehr zurückhaltend, wird explizit vermerkt, am häufigsten für Williams von Malmesbury Gesta regum Anglorum, aus denen ganze achtzehn mal geschöpft wird (eine Handschrift der Gesta war in der alten Bibliothek von Clairvaux vorhanden). Aelred of Rievaulx taucht mit einer seiner De oneribus-Predigten (cap. 33) auf und auch aus den Gesta Karoli Magni (cap. 126) wird ein Exempel übernommen. Das Fortleben vieler Exempel wurde durch die in den meisten Fällen überaus wortgetreue Übernahme in Konrads von Eberbach Exordium magnum gewährleistet.
Als ausgesprochen hilfreich erweisen sich tabellarische Übersichten, in denen auf einen Blick erkannt werden kann, welche der 165 Nummern der Neuedition auch in der Edition von Chifflet, dem Exordium magnum Konrads von Eberbach und in zwei weiteren, jüngst edierten Exempelsammlungen [1] vorkommen. In den Fontes exemplorum (319-415) greift man zunächst dankbar auf die italienischen Zusammenfassungen der einzelnen Exempel bzw. Wundererzählungen zurück (Vorsicht: der jeweilige Titel wird wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt und spiegelt somit nicht unbedingt den tatsächlichen Inhalt wider).
Ausgesprochen detaillierte und zuverlässige Register der Bibelstellen (419-431), der Quellen (432-438) und der Personen, Orte und Sachen (439-474) ermöglichen darüber hinaus ein zielgerichtetes Suchen innerhalb des Textes.
Im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts entstand, ausgehend von Clairvaux, eine Vielzahl von Exempelsammlungen, die ein Hauptziel verfolgten: die Erinnerung an das, was sich in den ersten Jahrzehnten der Gründung ereignete, im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Dazu gehört auch der jetzt mustergültig edierte Liber visionum. Seine Verbreitung war insgesamt sicher beschränkt (Cäsarius von Heisterbach nennt ihn in seinem überaus einflussreichen Dialogus miraculorum ebenso wenig wie franziskanische oder dominikanische Verfasser entsprechender Sammlungen), doch zeugen einige Handschriften davon, dass man die Erzählungen auch noch im 15. Jahrhundert las. Nicht nur Ordensgeschichtler und Kirchenhistoriker, sondern auch all diejenigen, die sich mit mittelalterlichen Mentalitäten befassen, werden zukünftig mit großem Gewinn auf die vorliegende Edition zurückgreifen.
Anmerkung:
[1] Collectaneum exemplorum ac visionum Clarevallense e codice Trecensi 946 (CCCM, 208), hg. v. Olivier Legendre, Turnhout 2012; Collectio exemplorum Cisterciensis in codice Parisiensi 15912 asservata (CCCM, 243), hg. v. Jacques Berlioz, Marie Anne Polo de Beaulieu, Turnhout 2012.
Giancarlo Zichi / Graziano Fois / Stefano Mula (a cura di): Herberti Turritani. Liber visionum et miraculorum Clarevallensium (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 277), Turnhout: Brepols 2017, CXXVI + 476 S., ISBN 978-2-503-56723-5, EUR 325,00
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