sehepunkte 18 (2018), Nr. 9

Georg Schmidt: Die Reiter der Apokalypse

Mit Georg Schmidt hat einer der Altmeister der Reichsgeschichtsforschung nach einer knappen Skizze [1] nunmehr eine monumentale Darstellung des Dreißigjährigen Krieges vorgelegt. Im "Prolog" legt er dar, dass er seine Deutung der "Meistererzählung des Bismarckreiches" (12) entgegensetzen will, die den Krieg und den folgenden Westfälischen Frieden als Urkatastrophe der Deutschen interpretiert hatte. "Versatzstücke der alten Erzählung" seien "nahezu unberührt vom Vorzeichenwechsel" nach 1945 geblieben (12). "Um diesen Mythos hinter sich zu lassen" - so die Forderung Schmidts -, müsse "dieser Krieg vor allem aus dem nationalstaatlichen Deutungskontext der Urkatastrophe und des Traumas gelöst werden" (13). Stattdessen sei "zu fragen, ob der Dreißigjährige Krieg mit aktuellen Problemen in eine erhellende Beziehung gesetzt werden" könne. Dabei gelte es aber "voreilige Schlüsse und Vereinnahmungen des vermeintlich Vorbild- und Musterhaften" zu vermeiden (14).

Sehr ausführlich kontextualisiert Schmidt in einem ersten Hauptteil ("Spuren", 27-151) den Dreißigjährigen Krieg. Dezidiert geht es ihm nicht darum, eine zwangsläufige Entwicklung hin zum großen Krieg nachzuzeichnen, sondern Strukturen, Faktoren, Muster und Deutungshorizonte zu skizzieren, die für die Einordnung des Geschehens wichtig sind. Hier und im ganzen Band formuliert er die Kapitelüberschriften als knappe Stichworte mit einer erläuternden Frage, die er in dem jeweiligen Abschnitt beantworten will (zum Beispiel "Ungewissheiten oder warum die Freiheit ängstigte", 29). Er holt dabei sehr weit aus und beginnt bei der "humanistische[n] Öffnung" (ebd.), um sich sodann unter anderem über die Reformation, die Verfassung des von ihm als "Reichs-Staat" interpretierten römisch-deutschen Reichs, die Konfessionalisierung, den Freiheitskampf der Niederlande, die kleine Eiszeit und die Hexenverfolgungen der unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges ("Krise oder wie Krieg zur Option wurde", 108) anzunähern. Neben zahlreichen Krisenphänomenen und Konflikten, die tiefgehende Verunsicherungen generierten, benennt er auch Friedensbemühungen und denkbare alternative Szenarien. Sein Befund, "[d]er Reichs-Staat dümpelte einem Krieg entgegen, den niemand wollte, dem sich aber auch niemand aktiv widersetzte" (129), erinnert ein wenig an die "Schlafwandler"-Theorie Christopher Clarks zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. [2] Dezidiert widerspricht Schmidt der These Heinz Schillings von einer durchgreifenden Konfessionalisierung der europäischen Staatenbeziehungen um 1600, die er vielmehr als - durchaus wirkmächtiges - "Konstrukt der Propaganda" (151) begreift.

Der umfangreichste, zweite Hauptteil ("Dreißig Jahre", 153-546) bietet eine im Wesentlichen chronologische, ausführliche Darstellung der Kriegsereignisse bis 1648 unter Einbeziehung der diplomatischen Verhandlungen bis zum Beginn des Westfälischen Friedenskongresses. Eingestreut sind Abschnitte zur Finanzgeschichte ("Kipper und Wipper", 203-210), zur Kriegsorganisation, zur Militärgesellschaft und zu den Waffen (261-284), zu den Leiden der Zivilbevölkerung ("Gräueltaten", 400-410) und immer wieder zur (oft konfessionell gefärbten) Propaganda. In der Tat darf die Verknüpfung der Ereignisgeschichte mit den zeitgenössischen Deutungen als ein Spezifikum dieser Geschichte des Dreißigjährigen Krieges gelten. Zu würdigen ist, dass die letzte Kriegsphase, der schwedisch-französische Krieg 1635-1648 weniger stiefmütterlich behandelt wird als in manchen anderen Darstellungen. Klar markiert Schmidt die Habsburger, namentlich Ferdinand II., als diejenigen, die die Spannungen in den "Reichs-Staat" hineintrugen und dessen freiheitliche Ordnung umstürzten: "Ferdinand II. gefährdete die Identität des Reichs-Staates als eines nicht monarchisch regierten Gemeinwesens, das in altrepublikanischer Manier niemandem untertan ist und sich seine Gesetze selbst gibt" (333).

Die zum Teil recht detaillierte, aber kaum detailverliebte Darstellung ist auf der Faktenebene sehr zuverlässig. Dass sich Ungenauigkeiten oder sachliche Fehler vor allem in den Abschnitten zu außerdeutschen Ereignissen finden (so heiratete Prinzessin Maria Gonzaga nicht Karl von Nevers, sondern seinen Sohn Karl von Rethel, 323), ist vielleicht kein Zufall. Denn es ist im Wesentlichen ein deutscher Krieg, den Georg Schmidt schildert. Die Kriegsbeteiligung der europäischen Mächte wird selbstverständlich thematisiert, die Kämpfe auf den außerdeutschen Kriegsschauplätzen sind - sieht man von dem in der Diktion Schmidts nicht zum "Reichs-Staat" gehörenden Böhmen einmal ab - lediglich "Nebenkriege" (325).

Im dritten Hauptteil ("Der Frieden", 549-695) sind dem Westfälischen Frieden zwei umfangreiche Kapitel gewidmet. Dabei geht Schmidt auch auf das Zeremoniell ein, ohne ihm freilich eine vergleichbare Aufmerksamkeit zu schenken wie die aktuelle kulturgeschichtliche Forschung (566-569). Mit gutem Grund wendet er sich gegen die Vorstellungen eines "Westfälischen Systems", das nach 1648 die europäische Staatenordnung geprägt habe. Wohl aber seien "der komplex-komplementäre Reichs-Staat und das plurale Nebeneinander der europäischen Mächte [...] miteinander verzahnt" worden (613).

Abgerundet wird der Band durch einen Abschnitt zur Kriegsbewältigung, der zum Teil die Linien bis ins 18. Jahrhundert auszieht, und einen "Epilog", der die Historiografiegeschichte des Dreißigjährigen Krieges rekapituliert und den bisherigen Interpretationen im "Fazit" noch einmal pointiert Schmidts eigene Deutung gegenüberstellt. Als einen "gemeinsamen Nenner" sieht er prinzipiell über den gesamten Kriegsverlauf hinweg zum einen "den als gottgewollt ausgegebenen und verstandenen Krieg, der sich als Strafe gegen die armen Sünder richtete und von diesen als Kampf gegen die Ketzer oder den Antichristen rationalisiert wurde" (688). Zum anderen versteht Schmidt den Krieg als "aus dem Ruder gelaufene[n] Verfassungskonflikt, in dessen Mittelpunkt die Ausgestaltung des Kaisertums der Habsburger stand" (688f.). Da der "Umbau des Reichs-Staates in ein monarchisch regiertes, mit Spanien eng verbündetes Kaiserreich [...] die europäische Konstellation drastisch verändert" hätte (689), habe er das Eingreifen der benachbarten Mächte provoziert.

Der von zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen und einigen Karten begleiteten Darstellung ist ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis angefügt. Ein Personenregister hilft bei der Orientierung im Text.

Georg Schmidt hat eine lebendige und gut verständliche Darstellung des Dreißigjährigen Krieges vorgelegt, die sich nicht mit einer Nacherzählung der Ereignisse begnügt, sondern der eingangs skizzierten borussisch-kleindeutschen Meistererzählung eine eigene Interpretation entgegensetzt. Er geht dabei von seinem in den 1990er-Jahren erstmals vorgetragenen Konzept eines "komplementären Reichs-Staats der deutschen Nation" aus, das er allerdings in einigen Punkten modifiziert bzw. weiterentwickelt hat. Weniger prominent scheint mir der Aspekt der "deutschen Nation" zu sein (wenngleich durchaus präsent, etwa im Kontext der Fruchtbringenden Gesellschaft, 233f.). Dem Reich als Lehnsreich erkennt Schmidt einen höheren Stellenwert zu als früher - immerhin ist in der ersten Karte ("Mitteleuropa 1618") neben der "Grenze des Reichs dt. Nation" auch die des "Lehenreiches" angegeben (das dann in der Karte "Mitteleuropa nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648" stillschweigend verschwunden ist). Auch hat er den Begriff des "komplementären Reichs-Staats" mehrfach zu dem des "komplex-komplementären Reichs-Staats" erweitert, der eine größere innere Spannung andeutet. Fraglich bleibt aus meiner Sicht immer noch der Mehrwert der Terminologie, bedenklich die suggerierte Eindeutigkeit, die etwa die unterschiedlichen und durchaus wandelbaren Grade der Einbindung der Reichsperipherien zu wenig berücksichtigt.

Statt in die Meistererzählung des kleindeutschen National- und Machtstaats stellt Schmidt den Dreißigjährigen Krieg in einen "freiheitlich-konstitutionellen Rahmen" (694). Indem er zugleich "die ambivalenten Folgen der Instrumentalisierung von Gottes angeblichem Willen" aufzeigt "wie die Tragfähigkeit von Lösungen, die Eintracht und Einigkeit mit religiöser Duldung und freiheitlicher Vielfalt verbinden" (695), legt er eine Deutung des Dreißigjährigen Krieges vor, die klar auf die Gegebenheiten und Herausforderungen des frühen 21. Jahrhunderts bezogen und insofern fraglos "zeitgemäß" ist. Eine derartige Interpretation hat zweifellos das Potential, einer breiteren Öffentlichkeit die Relevanz der frühneuzeitlichen Geschichte näherzubringen. Problematisch wäre es, wenn eine solche Deutung unter Ausblendung widerständiger oder vermeintlich nebensächlicher Aspekte zu einer neuen hegemonialen Meistererzählung kondensieren würde. Angesichts der vielfältigen Interpretationen des Dreißigjährigen Krieges ist eine solche Sorge aber wohl unbegründet. Insofern darf man die Monografie Georg Schmidts auch dann, wenn man nicht mit allen Deutungen übereinstimmt, getrost als eine bedeutende historiografische Leistung und als einen gewichtigen Beitrag zur Forschungsdiskussion um den Dreißigjährigen Krieg würdigen.


Anmerkungen:

[1] Georg Schmidt: Der Dreißigjährige Krieg, München 1995, 9. Aufl. 2018 (= Beck'sche Reihe 2005).

[2] Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, 18. Aufl. München 2014.

Rezension über:

Georg Schmidt: Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München: C.H.Beck 2018, 810 S., 3 Kt., 44 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-71836-6, EUR 32,00

Rezension von:
Matthias Schnettger
Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Schnettger: Rezension von: Georg Schmidt: Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München: C.H.Beck 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/09/31571.html


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