Als das Buch 2011 erschien (1. und 2. Auflage 2012, 3. Auflage 2014), hat es auch in sehepunkte [12 (2012), Nr. 3] hohe Anerkennung erhalten. Nun ist neben dem Vorwort ein neues Schlusskapitel 11 "Die Vorbildfamilie zerbricht" hinzugekommen. Darauf wird sich die Besprechung konzentrieren.
Karina Urbach will sich der "ständigen Wellenbewegung" der Victoria-Biografien zwischen Hagiografie und Hinrichtung entziehen und die Königin in ihren "unterschiedlichen Rollen [...] im Laufe ihres Lebens" zeigen: "als Monarchin und Mutter, als Strippenzieherin dynastischer Diplomatie und als symbolischer Mittelpunkt einer viktorianischen Fortschrittswelt" (8, 10). Das gelingt. Um dieses weite Programm in ein handliches Buch einzupassen, muss das veränderungsreich-dynamische viktorianische Zeitalter in sehr schlanken Linien aufgerufen werden. Dies gilt insbesondere für die Monarchin des Empires. Ihr ist ein eigenes Kapitel gewidmet. In ihm wird Victoria als "eine überzeugte Imperialistin" charakterisiert, die "auf der bedingungslosen Verteidigung des Erkämpften bestand" (196). Sie ersehnte den Titel Kaiserin von Indien und erhielt ihn dank Disraeli, für Afrika interessierte sie sich wenig, die "Home Rule" für Irland lehnte sie ab. Als Premierminister Gladstone sie durchsetzen wollte, galt er ihr als "Totengräber ihres Königreiches" (206). Welche Rolle Victoria als Symbolgestalt britischer Herrschaft im Empire spielte, wird nicht dargelegt. Urbach blickt auf die Lebensbereiche, in denen Victoria selber aktiv gestaltet hat oder sich mit dem Gestaltungswillen anderer auseinandersetzen musste. Dies durchzuhalten, gelingt auch in dem neuen Schlusskapitel, das über Victorias Lebenszeit hinausgeht. Hier zeigen sich allerdings auch die Grenzen dessen, was aus der Geschichte Queen Victorias und ihres Familienclans erschlossen werden kann.
"Monarchien und Adelsfamilien gleichen einem geschlossenen Ökosystem, das in Gefahr gerät, außer Balance zu geraten, wenn einzelne Elemente wegbrechen. Drei Störfaktoren können die Balance gefährden: erstens biologisches 'Versagen' (wenn keine Nachkommen produziert werden), zweitens Familienmitglieder, die wirtschaftlich ungeschickt agieren oder untereinander zerstritten sind, und drittens unberechenbare Bedrohungen von außen durch Revolutionen oder Kriege." (246) Der zweite Störfaktor hat für das britische Königshaus keine zentrale Rolle gespielt, obwohl die Nachkommen untereinander kräftig rivalisierten. Victorias Heiratspolitik und das Vermögen, das sie aufbaute, neutralisierten diese Störzone. Was sie als erfolgreiche Heiratsstrategin, deren Wirkung bis in die Enkelgeneration reichte, jedoch nicht beeinflussen konnte: Die Hämophilie, die einige ihrer Nachkommen weitergaben, ließen es zu einem "'Gesundheitsrisiko'" werden, "eine Enkelin Victorias zu heiraten" (241). Mit "ihrer fehlerhaften DNA" habe sie das "Schicksal ihrer Nachkommen" biologisch und mit einer "Infantilisierung der Familienmitglieder" sozial beeinflusst (243). Letzteres bezieht Urbach auf die vielen Kosenamen, die den Kindern gegeben und bis ans Lebensende beibehalten wurden.
Ob der dritte Störfaktor royalen Einflussmöglichkeiten zugänglich gewesen wäre, wenn man diese entschlossen genutzt hätte, ist eine offene Frage. Sie kann auch in diesem Buch nicht beantwortet werden. Um das zu versuchen, müssten die politischen Rollen der europäischen Monarchen in der Entstehungsphase des Ersten Weltkrieges detailliert untersucht werden. Dabei ginge es nicht um die Kriegsschuldfrage - die Autorin charakterisiert den gegenwärtigen Forschungsstand pointiert als ungeklärt (das Buch ist ohne Anmerkungen geschrieben) -, sondern ob das "dynastische Familienkartell" Europas (Heinz Gollwitzer) den großen europäischen Krieg hätte verhindern können, wenn die Monarchen gewagt hätten, sich zu widersetzen. Denn in der Außenpolitik blieben auch den parlamentarisch gezügelten Königen weiterhin erhebliche Möglichkeiten, an den politischen Entscheidungen mitzuwirken. Churchill hatte 1914 vergeblich seinen Premier für eine Konferenz europäischer Monarchen zu gewinnen versucht, um den Krieg doch noch zu verhindern. Eine Konferenz hätte vielleicht die Öffentlichkeit mobilisieren können, die abgeschirmte royale Krisendiplomatie zwischen Berlin, St. Petersburg und London bewirkte nichts.
Als der Krieg begonnen hatte, "standen Victorias Enkel auf gegnerischen Seiten" (247). Sie mussten sich als national zuverlässig erweisen, verloren staatenübergreifende Erbrechte und gaben angestammte Namen und Titel auf. Victorias Wille, den sie ihren Kindern vermittelte hatte, "niemals die deutschen Wurzeln der Familie zu vergessen" (236), wurde im Krieg zu einer Gefahr. Die verwandtschaftliche Verbundenheit reichte nicht einmal, dass George V. der Zarenfamilie das erbetene Exil in Großbritannien bot, als es noch möglich war. Nach dem Krieg bemühte sich Queen Mary, die deutsche Verwandtschaft wieder in das Familiennetz zu integrieren, auch den Bruder der ermordeten Zarin, einer Enkelin Victorias und Tochter eines hessischen Großherzogs. Royale Familienbeziehungen hatten nun ihre politische Bedeutung verloren. Im Zeitalter Victorias war das noch anders. Zu verfolgen, wie sie ihre Gestaltungsmöglichkeiten genutzt hat, macht Karina Urbach zu einer Lesefreude.
Karina Urbach: Queen Victoria. Die unbeugsame Königin. Eine Biografie, Erweiterte und aktualisierte Fassung, München: C.H.Beck 2018, 284 S., 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-72753-5, EUR 24,95
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