Das Erscheinen von Gerd Dietrichs dreibändiger Kulturgeschichte der DDR ist ein wissenschaftliches, kulturelles und geschichtspolitisches Ereignis. Das Werk ist das Ergebnis einer langjährigen Befassung mit der DDR-Kultur und erhebt durchaus mit Recht den Anspruch einer verbindlichen Gesamtdarstellung.
Freilich muss schon an dieser Stelle ein Einwand formuliert werden. Zwar will der Autor als "Chronist, Historiker und Zeitzeuge in einer Person" in klassischer Pose "sine ira et studio" und geradezu mit "einem 'fremden' Blick die vergangene Welt" beschreiben (XLI). Doch bei allem Respekt vor dem langen Atem des Historikers und seiner gleichbleibend dynamischen Sprache, die ebenso präzise analysiert wie anschaulich erzählt: Distanziert steht Gerd Dietrich der DDR-Kultur keineswegs gegenüber, eher hinterlassen die drei Bände den Eindruck einer gewichtigen Verteidigungsschrift. Freimütig räumt Dietrich ein, die "Herausforderung" (XXVII) angenommen zu haben, die vor zehn Jahren Axel Schildts und Detlef Siegfrieds "Deutsche Kulturgeschichte" provozierte, die sich bis 1990 allein der westdeutschen Entwicklung zuwandte und die DDR-Kultur nur in Randbemerkungen wahrnahm. Dietrich hat an diesem Buch Maß genommen und beansprucht nun für die DDR-Kultur von 1945 bis 1990 etwa den fünffachen Umfang dessen, womit 2009 die Kultur der Westzonen und der Bundesrepublik auskommen musste (470 Seiten). Wenn am Ende des dritten Bands in der Darstellung des Vereinigungsprozesses Heiner Müller zitiert wird, der die "ökonomisch über- und kulturell unterentwickelte Zivilisation der ehemaligen Bundesrepublik" (2346) aufspießt, so schließt sich ein argumentativer Kreis, der den Kulturstaat DDR sich gerade auch aus dem Gegensatz zur Bundesrepublik entfalten lässt.
Schon lange zuvor hatte sich Dietrich mit der Frage der Disposition der DDR-Kulturgeschichte beschäftigt und dazu anregende Vorschläge unterbreitet; so ist seine fein ziselierte Gliederung, zunächst in die drei zeitlichen Großabschnitte der jeweiligen Bände, keineswegs zufällig. Jeder Band, durch Einführungen und Schlussbetrachtungen ausgezeichnet, steht für eine deutlich abgrenzbare Phase der DDR-Kultur, die als Übergangsgesellschaft (1945-1957), Bildungsgesellschaft (1958-1976) und Konsumgesellschaft (1977-1990) vorgestellt werden. Die beiden Grenzmarken 1957/58 und 1976/77, beide nicht als Ereignisjahre, sondern als gleitende Übergänge verstanden, sind nicht besonders verblüffend, aber nachvollziehbar begründet. Das gilt zumal für das Jahr 1976, dessen Zäsurcharakter nicht auf die Biermann-Ausbürgerung und den Künstler-Exodus reduziert wird, sondern u. a. mit der kontinuierlichen Erweiterung des Kulturbegriffs (Künstlerisches Volksschaffen, Unterhaltungskultur, Konsumkultur) in der DDR als einem Leitgedanken des ganzen Werks sorgsam vorbereitet wird. Origineller noch ist die Markierung von 1957/58. Damit wird relativ früh der Wechsel von einer das ganze Deutschland ansprechenden, nationalkulturell orientierten Strategie hin zum Konzept einer gebildeten und kulturell hochaktiven "Nation DDR" postuliert. Traditionell wird das erste Modell mit dem Namen von Johannes R. Becher verbunden, der bei Dietrich teilweise hinter Anton Ackermann zurücktritt. Die - wie es später hieß - "gebildete Nation" DDR wurde dann ab 1957 in einer ganzen Reihe von Konferenzen und Debatten entwickelt. Als Zäsur wären 1959 (Bitterfelder Konferenz) oder 1961 (Mauerbau) die konventionellere Wahl gewesen. Auch die weiteren Hauptkapitel sind überzeugend abgegrenzt, indem kulturelle Konflikte (Formalismusstreit nach 1948; 11. Plenum des ZK 1965) und politische Zäsuren mit kultureller Signifikanz (1953; 1971) herausgestellt werden.
Kultur versteht Dietrich als eine Zusammensicht von alltäglicher kultureller Praxis, Kulturpolitik und Ideologie sowie den "Schönen Künsten", also den Künstlern und ihren Artefakten. Und so sind es diese Themen, die jedes der drei zeitlichen Hauptkapitel (drei pro Band) methodisch in drei Zugriffe differenzieren, die dann wiederum in etwa 10 bis 20 Unterkapitel mit einer eigenen Fragestellung gegliedert sind. So wie jeder Band zusammenfassend eingeleitet wird, erhält jedes Hauptkapitel einen Prolog. Die Trias folgt dem Vorbild von Schildt und Siegfried, die jeweils nach politischen Zäsuren gesetzte Kapitel in Abschnitte zu den Leitkategorien Alltagskultur, politische Kultur und Hochkultur (Künste) geteilt hatten. Dietrich modifiziert dies, da sowohl das Konzept Alltag in der durchherrschten DDR nur eingeschränkt funktioniert und politische Kultur allenfalls als Wechselspiel von Funktionärsgruppen beschrieben werden könnte. Allein das letzte Kapitel zu Revolution und Vereinigung fällt aus diesem Raster heraus und analysiert den Umbruch als eine Kulturrevolution. Die These, die Herbstkrise 1989 sei viel stärker kulturell als ökonomisch motiviert gewesen (2231), folgt Mühlberg und Sabrow, ist aber zugleich ein neuer Beleg für Dietrichs Konzept des Kulturstaats DDR.
Sieben konzeptionelle Ziele bestimmen Dietrichs Analyse der DDR-Kulturpolitik: Zunächst ist dies das vor allem die Anfangsjahre bestimmende, aber bis 1989 nicht aufgegebene "Umerziehungsmotiv", wonach sich die Deutschen nach den faschistischen Verbrechen im Zeichen von Antifaschismus und Humanismus neu zu erfinden hatten. Eine wesentliche Funktion kam dabei - zweites Motiv - der Hochkultur zu, namentlich der deutschen klassischen Dichtung und ihren humanistischen Ideen, deren Aneignung nicht nur ein traditionelles Konzept sozialdemokratischer Kulturpolitik schon vor 1914 war, sondern auch die Theorie von Erbe und Tradition in der DDR bestimmte. Deren Erweiterungen und Neujustierungen sind viele lesenswerte Abschnitte gewidmet. Spannend liest sich, wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller gemeinsam mit der Literaturwissenschaft das Verdikt von Lukács und Kurella gegen die Romantik zu Fall bringen. Weitere Beispiele sind der parallele Kampf um die Klassische Moderne oder die späte Debatte um Nietzsche, um von den klassischen Beispielen (Preußen; Luther versus Müntzer) zu schweigen. Eng mit der Hochkultur verbunden waren, drittens, das Demokratisierungsmotiv, wobei Dietrich die mit der Brechung des Bildungsmonopols verbundenen neuen Diskriminierungen, etwa von Pfarrerskindern, nicht erwähnt, und in gewissem Sinne auch, viertens, das Kampfmotiv ("Kultur ist Waffe"), das sich, am Ende immer weniger erfolgreich, aus der Frontstellung zur westlichen Kultur und Politik speiste. Vielleicht am stärksten mit der Entwicklung der DDR-Kultur verknüpft ist, fünftens, das Produktivitätsmotiv, das den Betrieben, schon lange vor Bitterfeld, wie Dietrich deutlich herausarbeitet, eine Schlüsselstellung für die Verbindung von Arbeit und Kultur zuwies. An diese betriebliche Arbeiterkultur knüpfte teilweise auch, sechstens, das Motiv der Breitenkultur an, das in einem latenten Gegensatz zur Hochkultur stand und auf Aktivierung des "künstlerischen Volksschaffens" setzte. Dies zielte weniger auf die mit Bitterfeld verbundenen Zirkel malender Bergleute und dichtender Stahlarbeiter als auf traditionelle und massenkompatible Formen wie Chorgesang und Volkstanz. Auf diese Weise ist auch eine Brücke zum siebten und letzten Element geschlagen: dem Unterhaltungsmotiv. Als Ablenkung vom Klassenkampf standen Entspannung und alltagskulturelle Vergnügung als kleinbürgerliche Verirrung lange unter Verdacht. Man wird Dietrich nicht missverstehen, wenn er gerade in der Entfaltung und Durchsetzung dieses letzten Motivs einen der wichtigsten Entwicklungsprozesse der DDR-Kultur sieht. Dafür verantwortlich sind zum einen die neuen Medien, namentlich das Fernsehen, aber auch die sich über zwei Jahrzehnte erstreckenden Kämpfe um die Pop- und Rockmusik der Jugend. Auf der anderen Seite führten sozialpolitische Errungenschaften, wie die verkürzte Wochenarbeitszeit und längere Ferienansprüche, ab Mitte der 1960er-Jahre zu einer Debatte, wie denn die neue "Freizeit" kulturvoll zu nutzen sei. Es waren vor allem Kulturwissenschaftler in Leipzig und Ost-Berlin, die darüber forschten und mit ihren Arbeiten zur Fundierung eines erweiterten Kulturbegriffs beigetragen haben. Ihm ist Dietrich erkennbar verpflichtet, wenn er nicht nur das Verhältnis von Staat und Kirche, Sport und Medien, sondern auch Zirkus und Kirmesvergnügen sowie vielfältige Freizeitaktivitäten unter dem Dach des Kulturbunds (von der Aquaristik bis zur Philatelie) in die Darstellung einbezieht.
Es ist aber nicht allein der Stoff in seiner Fülle, dem sich der Umfang des Werks verdankt. Dietrich ist ein Freund des Zitats. Er zitiert elegant in seinen Text hinein, aber auch ausschweifend und oft über eine halbe Seite hinweg, gern das zitierte Urteil an die Stelle eigener Wertung setzend. Dies und die Neigung, Konferenzen, Tagungen und Theoriedebatten - und wie viele hat es in der DDR gegeben - im Detail nachzuarbeiten, verstellen manchmal sogar den Blick auf das, was von der Kultur der DDR bis heute wertvoll geblieben ist. Manchmal hätte man gern noch mehr über die Kunstwerke der Literatur, des Films, der Malerei und Plastik, der Musik und des Theaters gelernt, die mit Stadtplanung und Architektur, Debatten in "Sinn und Form" und in der Akademie im jeweils letzten Abschnitt dargestellt werden. Auch die Akteure bleiben mitunter blass; allein Alfred Kurella erhält ein biographisches Kapitelchen. Hätten nicht, gerade auch weil sich das Buch als Handbuch und Einladung zum Kennenlernen der DDR-Kultur versteht, einige biographische Akzente geholfen, sich in der Fülle der Namen und Werke, Wertungen und Inhalte besser zu orientieren? Einige Felder fehlen fast ganz: Die auswärtige Kulturpolitik wird erst in einem späten Abschnitt summarisch auf wenigen Seiten zusammengefasst, ebenso die reiche Museumslandschaft, zu der es zuvor nur knappste Hinweise gab. Während die Neue Musik für jeden Zeitabschnitt mit langen Listen von Werken resümiert wird und auch Schlager und Volksmusik ihren Ort haben, sucht man kirchliche Kultur wie den Kreuzchor und die Thomaner oder auch die Alte Musik vergebens.
Doch lädt ein Buch dieser Größe naturgemäß zur Beckmesserei ein. Auch wenn der Rezensent sich zahlreiche Einwände notiert hatte - etwa zur allzu liebevollen Weichzeichnung des scheinbar so guten Anfangs der SBZ oder, um nur ein Fehlurteil aufzuspießen, zum beiläufigen Abtun des Protests gegen den Abriss der spätgotischen Universitätskirche St. Pauli in Leipzig 1968 (1301), der einige Menschen sogar ins Gefängnis gebracht hat - am "Dietrich" wird keiner vorbeikommen, der sich künftig mit deutscher Kultur nach 1945 oder mit der DDR befasst.
Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 3 Bde., LXVI + 2429 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30192-0, EUR 120,00
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