Als Vertreter eines akademisch nur schwach verankerten Faches wie der islamischen Kunstgeschichte und Archäologie begrüßt man es prinzipiell, wenn ein Werk vorgelegt wird, das zum wissenschaftlichen Einstieg ermutigt - noch dazu, wenn seine reiche Bebilderung geeignet ist, Neugier zu wecken. Leider muss das Lob beinahe schon im Grundsätzlichen enden.
Reiner Sörries ist auf dem Nachbargebiet der Christlichen Archäologie ausgewiesen und hat bereits zuvor eine Studie zu islamischen Friedhöfen vorgelegt. Schon mit dem Titel verdeutlicht sein neues Werk, dass es das Fachgebiet der islamischen Archäologie und Kunstgeschichte (sicherlich in absichtsvoller Reihung) vollständig und aktuell abdecken soll. Eine abgestufte Gliederung lässt Informationen über verschiedene Länder und Themen leicht auffinden, ein Index und ein ausführliches Glossar helfen bei der Erschließung der Inhalte.
Ein Handbuch sollte die wichtigen Gegenstände und Fragestellungen des Faches auf dem aktuellen Forschungsstand behandeln und auf einschlägige Ressourcen verweisen. Diesem Anspruch kann die vorliegende Publikation leider nur stellenweise genügen. Schon beim ersten Durchblättern ist nicht zu übersehen, dass die zahlreichen Illustrationen (auf 272 Tafelseiten) vorwiegend Architektur zeigen; dazwischen finden sich Beispiele der Objektkunst mit Vitrinenfotos von Keramik, Elfenbein, Bergkristall etc. und sehr wenige Abbildungen aus Manuskripten. Diese inhaltliche Konzentration auf das Gebiet der Architektur findet im Text ihre Entsprechung. Sie mag verständlich sein, ist aber dem Ziel, ein ganzes archäologisch-kunsthistorisches Forschungsgebiet darzustellen, durchaus abträglich. Wer sich etwa über den Forschungsstand zur archäologisch nachgewiesenen Keramik informieren möchte - immerhin ein Gegenstand, ohne den archäologische Forschung schlichtweg nicht auskommt - wird hier nicht fündig.
Die ausführlichen Abteilungen, in denen Grundzüge der Geschichte und Geographie der islamischen Welt dargestellt werden, wirken in einem Handbuch zur Archäologie und Kunstgeschichte deplaziert. Sie lassen sich wohl aus dem Bestreben des Autors erklären, möglichst viel Hintergrundinformation zwischen den Buchdeckeln seiner Einführung zu versammeln. Dieser Bedarf ist jedoch durch diverse andere Überblicks- und Nachschlagewerke gedeckt. Hinzu kommt, dass manche Schwerpunktsetzungen in diesen Abschnitten durchaus fragwürdig erscheinen, etwa in der Aufwertung extrem revisionistischer Thesen zur frühislamischen Geschichte (53-55, 103-104). In den länderkundlichen Abschnitten sind fast immer Moscheebauten erwähnt, während andere Erscheinungsformen von Kunst und Architektur vernachlässigt werden. Auch beim sachlichen Gehalt stehen diese Teile nicht immer auf festem Grund - so wird etwa über das heutige Kasachstan ausgesagt, das Land sei bereits im 10. Jahrhundert weitgehend islamisiert gewesen (514). Generell steht die flächendeckende Aufmachung des Länderkatalogs im Kontrast zu den Schwankungen in Tiefe und Umfang: Der Abschnitt über die Schweiz (561) ist fast ebenso lang wie derjenige zu Syrien (493).
Ein reizvolles Themengebiet, das in zwei weiteren Abteilungen angeschnitten wird, bilden die ost-westlichen Begegnungen, in denen sich die literarische und wissenschaftliche Beschäftigung mit islamischen Kulturen konkretisieren lässt (36-52, 569-613). Auch hier wird der Bereich einschlägiger Information zur islamischen Kunstgeschichte und Archäologie bald verlassen und Entbehrliches zusammengetragen, wenn es beispielsweise um Hans Christian Andersen und Karl May geht.
In den thematischen Kapiteln, die sich nun tatsächlich der Kunst und materiellen Kultur widmen, dominiert die Architekturgeschichte und in ihr die religiöse Architektur, während andere wichtige Themen wie etwa die Buchkunst nur gestreift werden. Wiederum zeigen sich starke Unebenheiten, wenn etwa im Kapitel zur "islamischen Ikonographie" ein Abschnitt "Elefant" auf einer Ebene mit zentralen Themen wie "Menschen und Porträts" und "Biblische Motive" erscheint. Profane Themen der Malerei wie etwa Szenen aus dem Shahname und anderen persischen Versepen werden gar nicht erst genannt. Insgesamt leidet die Darstellung unter dem religiös verengten Blickwinkel, der andererseits jedoch nicht in konsequente Beschränkung auf den religiös-islamischen Bereich mündet. Bei der stillschweigenden Übertragung westlicher Kunstbegriffe schwingt an mehreren Stellen das unausgesprochene Werturteil mit, demzufolge das späte Erscheinen von Tafelmalerei und die Seltenheit figürlicher Plastik als qualitative Mängel zu sehen seien (291-293).
Leider ist der Forschungsstand, auf den mit der Bibliographie und in (eher unregelmäßig gestreuten) Fußnoten verwiesen wird, ganz überwiegend auf die deutschsprachige Literatur vor 1990 beschränkt. Als Beispiel mag die Architektur Zentralasiens dienen, zu der lediglich der DuMont-Führer "Sowjetischer Orient" von 1982 genannt ist. Susan Sinclairs Bibliography of Art and Architecture in the Islamic World (2 Bde. Leiden 2012) wird im Literaturverzeichnis zwar genannt - benutzt wurde sie vom Verfasser anscheinend kaum.
Ein gänzlicher Fehlschlag also? Selbst wenn man Studierenden das Werk nicht zum Nachschlagen empfehlen kann, so bietet die Lektüre doch immer wieder spannende und herausfordernde Momente. Höchst anregend sind die "Top Ten" des Schlusskapitels (615-648), die in eine locker geschriebene fiktive Reiseroute durch die gesamte islamische Welt in ihrer kulturellen Vielfalt münden. Tiefer gehen die Überlegungen in den Abschnitten zu Städtebau und Architektur der Moderne und Postmoderne (171-176, 225-231), zur Frage der Periodisierung der islamischen Kunstgeschichte (311-321) und zu orientalisierenden Architekturen (323-330). Damit werden einige aktuelle Forschungsfragen angerissen, während sie für weite Bereiche des Fachgebiets nicht einmal anklingen.
In der islamischen Welt sind historische Entwicklungen enger mit Zeugnissen materieller Kultur und mit Kunstwerken verbunden als es viele wissenschaftliche Darstellungen ahnen lassen. Hier liegen vielversprechende Forschungsfelder. Vor diesem Hintergrund sind fundierte Einführungen geradezu gefordert. Man wünscht sich Nachschlagewerke, die mit weniger Ballast beschwert sind und die unmittelbarer auf aktuelle Forschung Bezug nehmen. Reiner Sörries' Buch erweist sich als Mosaik aus zahlreichen interessanten Informationen und Beobachtungen, die stark aus der Perspektive des Nachbarfachs gewichtet werden und mit dem aktuellen Forschungsstand in der islamischen Kunstgeschichte und Archäologie nur locker verbunden sind. Doch machen schon die zahlreichen Abbildungen, in denen gerade die gegenwärtigen Aspekte visueller Kulturen in der islamischen Welt dargestellt sind, das Durchblättern zu einem anregenden Erlebnis.
Reiner Sörries: Handbuch zur Islamischen Archäologie und Kunstgeschichte, Wiesbaden: Reichert Verlag 2018, 767 S., 425 Farb-, 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-95490-280-4, EUR 98,00
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