Die Industrialisierung, die Rationalisierung und die Verwissenschaftlichung der Produktionsprozesse konfrontierten den europäischen Bauernstand seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt mit dem kapitalistischen, marktorientierten Gedankengut. Diese Auseinandersetzung mit der Moderne beleuchtet am Beispiel der Schweiz die rezensierte Studie. Deren Verfasser sind erfahrene Historiker des Archivs für Agrargeschichte in Bern. Peter Mosers Schwerpunkt liegt in Agrar-, Wissens- und Konsumgeschichte, Juri Audersets in politischer und intellektueller Geschichte.
Das Thema der Studie ist die Transformation der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft zu einer industriell-agrarischen von der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Unter Wissensgesellschaft wird "jenes Ensemble von Akteuren, Institutionen, Diskursen und Praktiken [verstanden], das im Verlaufe der Versuche zur Integration der Landwirtschaft in die modernen Industriegesellschaften [...] entstanden ist und die Interaktionen des Industriellen mit dem Agrarischen geprägt hat." (11) Die Verfasser bedienen sich keines konkreten wissenshistorischen Ansatzes, gemeinsame Forschungsaspekte lassen sich freilich etwa mit der "Verwissenschaftlichung des Sozialen" (Lutz Raphael) erkennen.
Der theoretischen Einleitung folgen vier Kapitel, in denen exemplarisch Schlüsselaspekte der agrarischen Transformation behandelt werden: die Einführung der Buchhaltung, die Motorisierung/Mechanisierung der Landwirtschaft und die Pflanzen- und Tierzüchtung. Das letzte Kapitel vor dem Fazit befasst sich mit der Abschlussphase der Transformation, den 1950er-1960er-Jahren. Diese sachliche Unterteilung des behandelten Stoffs entspricht ansatzweise den chronologischen Entwicklungen. Erst die durch buchhalterische Maßnahmen bewirkte Rationalisierung der Agrarbetriebe und deren Orientierung auf Rentabilität beschleunigten den Einsatz von Maschinen und neue Fütterungs- und Züchtungspraktiken.
Die Studie zeigt, dass sich die seit den 1860er-1870er-Jahren immer stärker werdenden industriellen Konzepte der Modernisierung und das kapitalistische Gedankengut nur langsam in der Landwirtschaft durchsetzten. Zum einen war diese langsame Entwicklung eine Folge der Tradition des praxisorientierten Wissens (embedded knowledge), zum anderen der Besonderheiten agrarischer Produktion: Saisonalität, Wetterabhängigkeit und die Reproduktion der Produktionsgrundlagen. Vor allem diese letzte Eigenschaft stellte ein akutes Problem für die Etablierung der Buchhaltungspraxis auf dem Land dar. Um die Bauern zu Unternehmern werden zu lassen, forderten Bauernverbände und wissenschaftliche Einrichtungen, die "produktive" erwerbliche Tätigkeit von den "reproduktiven" Haus- und Erziehungsarbeiten zu trennen und "den landwirtschaftlichen Betrieb rechnerisch möglichst zu zergliedern." (76) Im Resultat führten diese oft umständlichen und schwer umsetzbaren Forderungen unter Umständen zu deutlichen Diskrepanzen zwischen den materiellen und den in den Haushaltsbüchern dargestellten Wirklichkeiten.
Ein spezifisches Merkmal des Übergangs zur industriell-agrarischen Wissensgesellschaft war die oft verwendete Analogie zwischen dem Tierkörper und der Maschine. Auf der Grundlage dieser Analogie sorgte die Erkenntnis der multifunktionalen Leistungsfähigkeit und der Flexibilität des Tierkörpers dafür, dass erst im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts eine "Zweinutzkuh" angeschafft und bald darauf die Kuhhaltung zu entweder Milch- oder Fleischproduktion spezialisiert wurde. Die Zugkraft der Kühe wurde außerdem bis zu diesem Zeitpunkt gerne abwechselnd mit dem Traktor eingesetzt.
Trotz nur langsam fortschreitender Motorisierung und Profitorientierung der agrarischen Betriebe unterlag der Umgang mit den Nutztieren einem signifikanten Wandel. Die Zucht wurde durch Herdebücher, Leistungsprüfungskataloge und Abstammungsnachweise normiert und quantifiziert. Diese wissenschaftlich basierten Techniken lieferten zwar oft nur ein neues Vokabular zu den bereits vorhandenen traditionellen Beobachtungspraktiken, die einzelnen Ergebnisse ließen sich nun aber mit den anderen Betrieben und Regionen vergleichen. Experimentelle Züchtung und quantitative Auswertung von Ernteergebnissen wurde genauso bei Pflanzen praktiziert. In der Schweiz ging damit die Teilnahme von Bauern an einem kollektiven Wissensaustausch einher, für den sie als Belohnung beispielsweise Zugang zu gutem Getreidesaatgut erhielten.
Der Übergang zu einer industriell-agrarischen Wissensgesellschaft mit mehrheitlich profitorientierten Betrieben erfolgte endgültig erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Die neue Wissensordnung war etwa durch die Ansetzung theoretischer Zucht- und Betriebsmodelle, durch quantifizierende und formalisierende Begrifflichkeiten, durch eine konzeptionelle Annäherung an die Industrieproduktion und durch die Wahrnehmung von Pflanzen und Tieren als Waren gekennzeichnet.
Viele Aspekte der Studie basieren auf zahlreichen Publikationen der Verfasser zu dieser Thematik. Sie ist dennoch keineswegs nur eine Kompilation. Die bereits bekannten Themen werden aufgegriffen, um anhand detaillierter Ausführungen in einem neuen Zusammenhang beleuchtet zu werden. Unerklärt bleibt jedoch leider, warum gerade diese Aspekte der agrarindustriellen Verflechtungen thematisiert werden. Dass die Fragen der Buchhaltung, der Mechanisierung oder der Tierzucht für die besprochene Transformation höchst relevant sind, steht außer Frage. Im Detail ist aber nicht klar, warum gerade künstlicher Besamung so viel Platz gewidmet wird und nicht etwa dem Veterinärwesen oder der Stallarchitektur und den Stalleinrichtungen. Allgemein ist nicht klar, inwieweit die Quellen systematisch ausgewertet wurden. Die Verfasser betonen, dass sie sich in ihrer Untersuchung nicht lediglich auf die institutionalisierte Wissenschaft beschränken. Die Stellungnahmen von mittelgroßen Bauern und Kleinbauern oder sogar von Bauernvereinen sind aber gegenüber denen der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und anderer wissenschaftlicher Einrichtungen deutlich unterrepräsentiert.
Trotz dieser wenigen Schwächen gibt die Studie einen wertvollen Überblick über wichtige Aspekte des Übergangs der schweizerischen Landwirtschaft von der traditionellen zur industriell-kapitalistischen Wissensordnung. Durch den länderübergreifenden Charakter der beschriebenen Prozesse und durch Verbindungen einiger der besprochenen Protagonisten zu deutschen Institutionen lassen sich die Ergebnisse dieser Studie in einen mitteleuropäischen bzw. westeuropäischen Kontext einbetten.
Juri Auderset / Peter Moser: Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft. Wissenskulturen, Machtverhältnisse und natürliche Ressourcen in der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft (1850-1950), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 341 S., 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-51072-5, EUR 45,00
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