sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8

Wolfgang Templin: Der Kampf um Polen

Wolfgang Templin stellt in dem vorliegenden Werk die Zweite Polnische Republik als "abenteuerliche Geschichte" dar. Wie ein roter Faden zieht sich der Begriff des Abenteuers aus dem Untertitel durch seine Ausführungen. Auf der Grundlage seines "eigenen, östlich geprägten Zugang[s] zur neueren Geschichte Polens" (227) will der hochdekorierte Bürgerrechtler und Publizist einem breiten deutschen Leserkreis die Ereignisse und prägenden Personen der polnischen Zwischenkriegsjahre näherbringen. Mit diesem Ansatz wendet sich Templin offenkundig nicht in erster Linie an ein Fachpublikum, sondern es sollen sich die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Debatten in Polen für deutsche Beobachter besser nachvollziehen lassen.

Einführend findet sich dazu im ersten Viertel des Werkes eine anekdotenreich dargestellte tour de force durch die polnische Geschichte der Teilungen und Aufstände, die den Boden bereitet für den Kern der Erzählung. Ein interessantes und gelungenes Stilmittel ist die Wahl des Pariser Exils polnischer Patrioten und Revolutionäre als wiederkehrender Fluchtpunkt dieser Vorgeschichte, die letztlich 1919 in den Pariser Verhandlungen um die Wiederentstehung eines polnischen Staates kulminiert. Im Hauptteil zeichnet Templin chronologisch die Entstehung, Entwicklung und zögerliche Konsolidierung der Zweiten Polnischen Republik nach, bevor er mit einem kurzen Ausblick auf die weiteren Entwicklungen in unserem Nachbarland bis in das 21. Jahrhundert hinein schließt.

Insgesamt orientiert sich die Erzählung maßgeblich an prägenden Persönlichkeiten und bedeutenden Ereignissen. Unumstrittener Hauptdarsteller ist dabei Józef Piłsudski. Seine Vorstellungen, Entscheidungen und Karriere tragen Templins Ausführungen und verleihen ihnen Struktur. Diese Darstellungsweise entlang der Biografien und Handlungen einzelner prominenter (männlicher) Figuren geht durch die Vielzahl an Personal, Gruppierungen und Fraktionen beizeiten zu Lasten der erzählerischen Stringenz. Ein Glossar hätte Leserinnen und Lesern mit geringeren Vorkenntnissen sicherlich gute Dienste erwiesen, um den Überblick über dieses umfangreiche Ensemble zu behalten. Gerade für die breite Zielgruppe dürften durch die personengebundene Darstellung einige zentrale Zusammenhänge unterbelichtet bleiben, da über die ereignisgeschichtliche Erzählung hinausreichende, tiefergehende Kontexte nur oberflächlich behandelt werden. So wird beispielsweise die Bedeutung der ukrainischen Zeitgeschichte für den polnischen Kontext nicht nachhaltig ersichtlich, obwohl Templin dem Thema ein ganzes Kapitel widmet.

Seine Vorzüge hat das Buch durch seinen Fokus auf die Figur Piłsudskis dagegen dort, wo sich die Erzählung unmittelbar am Handeln des Protagonisten orientieren kann. Die Darstellung des "Wunders an der Weichsel" oder des Putsches von 1926 beispielsweise fesselt tatsächlich wie ein Abenteuerroman, aber auch die Lähmung der polnischen Politik und die innere Zerrissenheit der politischen Landschaft wie auch der Gesellschaft fängt das Werk ausgezeichnet ein.

Aus fachlicher Perspektive fallen jedoch einige Stilelemente ins Auge, die den Gesamteindruck trüben. Die personenzentrierte Erzählweise wirkt für das historische Fachpublikum etwas aus der Zeit gefallen und soziale Prozesse außerhalb eines politisch-militärischen Arkanzirkels finden aufgrund dieser Ausrichtung in Templins Darstellung nur wenig Widerhall. Dem Lektorat sind zudem einige offensichtliche und vermeidbare Fehler entgangen, die den Autor selbst vermutlich am meisten ärgern ("August Stresemann", 145). Neben gelegentlichen begrifflichen Unschärfen und unglücklich erscheinenden Generalisierungen - etwa eine diagnostizierte Bedrohung Polens durch "die Deutschen" (77) - wirft aber vor allem die Darstellung Piłsudskis Fragen auf. Die scheinbar selbstverständliche Verwendung der Bezeichnung "der Marschall" als Synonym für Piłsudski, dessen "Entschlossenheit, Charisma und Geschick" (117) gleich mehrfach betont werden, sowie die charakterliche Gegenüberstellung zu dem als Negativfolie genutzten Roman Dmowski lassen stellenweise die objektivierende Distanz zu den Figuren vermissen. Der Eindruck einer generell unkritischen Auseinandersetzung mit der Zweiten Republik entsteht dabei indes nicht. Besonders in den späteren Kapiteln übt Templin auch deutlich Kritik an Piłsudskis Person und Politik und spart brisante Themen wie den Antisemitismus innerhalb der polnischen Gesellschaft der Zwischenkriegsjahre nicht aus.

Insgesamt ist ein Buch entstanden, das sich dem wichtigen und lange fälligen Anspruch stellt, die facettenreiche Geschichte Polens einer breiteren deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mit seiner deskriptiven Herangehensweise schafft Templin dafür einen niedrigschwelligen Einstieg, die jedoch in der kontextuellen Tiefe und der Ausweitung der Perspektive über die politisch-militärische Sphäre hinaus zwangsläufig Lücken in Kauf nimmt. Für ein Fachpublikum hält das Werk wohl keine neuen Erkenntnisse oder Interpretationsansätze bereit, setzt jedoch eindrücklich den Anreiz, die polnische Geschichte nicht allein aus einem deutschen Blickwinkel zu beleuchten und damit dem nachbarschaftlichen Verständnis auf die Sprünge zu helfen.

Rezension über:

Wolfgang Templin: Der Kampf um Polen. Die abenteuerliche Geschichte der Zweiten Polnischen Republik 1918-1939, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 254 S., ISBN 978-3-506-78757-6, EUR 39,90

Rezension von:
Johanna Bichlmaier
Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Empfohlene Zitierweise:
Johanna Bichlmaier: Rezension von: Wolfgang Templin: Der Kampf um Polen. Die abenteuerliche Geschichte der Zweiten Polnischen Republik 1918-1939, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/07/34621.html


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