Die Forschungsliteratur zur Geschichte des Antisemitismus ist nicht nur reichhaltig, sondern auch vielfältig. Neben historischen Gesamtüberblicken finden sich Einzelstudien, und vergleichende Werke stehen neben theoretischen Erklärungsversuchen. Insofern muss es erstaunen, dass die Geschichte extralegaler und kollektiv ausgeübter judenfeindlicher Gewalt noch immer ein vergleichsweise wenig beleuchtetes Thema ist. Der Fokus lag bisher zumeist auf der Geschichte antijüdischer Ideologie und staatlicher Politik. Wenngleich zu einzelnen Pogromen exzellente Untersuchungen vorliegen, fehlt es doch bislang noch immer an einem Gesamtüberblick antijüdischer Gewalt in der Moderne, der die einzelnen Ereignisse aufeinander bezieht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede benennt und daraus Schlüsse für das Verständnis des Antisemitismus zieht. [1]
Der Soziologe Werner Bergmann, der seit über dreißig Jahren am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin forscht und einer der profiliertesten Antisemitismusforscher der Bundesrepublik ist, hat sich mit seinem neuen, 850 Seiten starken Buch darangemacht, diese Lücke zumindest für den europäischen Raum zu schließen. Das Ergebnis nötigt dem Rezensenten Hochachtung ab - in einer dichten, gut lesbaren Darstellung rekonstruiert Bergmann Vorfälle antijüdischer Gewalt in ganz Europa von der Französischen Revolution bis zum Vorabend der Russischen Revolution von 1905. Erfreulicherweise versäumt er es nicht, neben der deskriptiven Ebene auch seine soziologische Expertise zum Zug kommen zu lassen und die Empirie immer wieder in Bezug zu seiner Theorie des Pogroms als "Form kollektiver interethnischer Gewalt" (43) zu setzen. Die historische Darstellung ist somit immer schon bereits theoretisch vermittelte Deutung. Nicht zuletzt die fast dreißig Seiten lange detaillierte Auflistung von Gewalttaten sowie das reichhaltige Quellen- und Literaturverzeichnis verleihen dem Werk zusätzlich auch noch einen Handbuchcharakter.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, alle Kapitel einzeln zu diskutieren, deshalb sei lediglich auf einige Grundzüge der Argumentation und schlaglichtartig auf einzelne repräsentative Abschnitte hingewiesen. Die Ausgangsthese des Buches lautet, dass es im 18. Jahrhundert in Europa eigentlich keine nennenswerten Vorfälle kollektiver antijüdischer Gewalt mehr gegeben habe, diese im 19. Jahrhundert aber wieder - wenn auch unter veränderten Bedingungen und in anderen Formen als noch im Mittelalter - Verbreitung gefunden habe. Mit der Herausbildung des säkularen Nationalstaates und seiner Durchsetzung des Gewaltmonopols hätten die Grundlagen der vormodernen Judenfeindschaft - etwa ständischer Partikularismus und religiöse Intoleranz - ihr Ende gefunden. Die Frage, die Bergmann sich im Anschluss daran stellt, ist, wieso es trotzdem wieder zu antijüdischer Gewalt gekommen ist. Was waren ihre Ursachen und ihre Funktion? Wer war an ihr beteiligt und was war kennzeichnend für Situationen, in denen sie ausbrach? Damit versucht er, "die in zahlreichen Fallstudien zu antijüdischen Ausschreitungen in den europäischen Ländern erarbeiteten Ergebnisse [...] in einer Gesamtdarstellung zu bündeln, um so das Ausmaß, die geographische Verteilung sowie Wandlungsprozesse und typische Verlaufsformen dieser kollektiven Gewalt sichtbar zu machen." (15) Er liefert keine 'Großantwort', sondern viele kleine: so habe die antijüdische Gewalt im Untersuchungszeitraum im Vergleich zur zweiten Pogromwelle im Zarenreich (1903-1906) zu relativ wenigen Toten geführt (746); die Täter seien hauptsächlich jüngere Männer gewesen (751), allerdings aus verschiedenen Schichten und Milieus stammend; die Exzesse hätten sich oft wellenförmig ausgebreitet, aber zumeist einen lokalen Ursprung (749 f); und der Staat sei häufig passiv geblieben und habe die Gewalt erst verzögert - dann aber erfolgreich - eingedämmt (747).
Zwei theoretische Kernprämissen liegen Bergmanns Buch zugrunde: Zum einen nimmt er eine modernisierungstheoretische Perspektive ein, die von der Annahme gekennzeichnet ist, in ganz Europa hätten sich im 19. Jahrhundert Säkularisierung und Rationalisierung durchgesetzt. Zum anderen vertritt er in Bezug auf den Antisemitismus eine Real- bzw. Ersatzkonfliktthese, d.h. er geht davon aus, dass jedem Pogrom ein konkreter Konflikt vorausgeht, der entweder direkt das jüdisch-christliche Zusammenleben berührt (Realkonflikt) oder nur symbolisch an den Juden ausagiert wird (Ersatzkonflikt). Diese Grundannahmen ermöglichen eine historische Kontextualisierung jedes einzelnen Vorfalles und verhindern, dass sich antijüdische Gewalt im undurchsichtigen Nebel eines vermeintlich "ewigen" Antisemitismus auflöst. Allerdings birgt dieses Vorgehen zugleich die Gefahr, die erstaunlichen Kontinuitäten in der langen Geschichte der Judenfeindschaft zu nivellieren.
Ein Beispiel: Bergmann widmet sich ausführlich zahlreichen Ritualmordbeschuldigungen im Zeitraum um 1900 und hebt mit Hillel Kieval die "Modernisierung des traditionellen religiösen Vorurteils" (544) hervor. Zweifellos lässt sich auch in den modernen Ritualmordbeschuldigungen eine Verwissenschaftlichung der Judenfeindschaft ausmachen, trotzdem stellt sich doch die Frage, wie in einer vermeintlich aufgeklärten und säkularen Gesellschaft uralte antijüdische Legenden, die nicht nur bis ins Mittelalter, sondern in früheren Formen sogar bis in die vorchristliche Antike zurückreichen, fröhliche Urständ feiern konnten. Um diese Frage beantworten zu können, reicht ein Blick auf lokale oder auch nationale Konfliktpotenziale nichts aus. Vielmehr bedarf es grundlegender sozialpsychologischer und kulturtheoretischer Überlegungen, die die longue durée des Antisemitismus mit in den Blick nehmen. Auf solche verzichtet Bergmann weitgehend.
Das führt zwar einerseits zu einer Verengung des Blicks, ist aber andererseits vor dem Hintergrund seiner thematischen Eingrenzung auch nachvollziehbar. Generell nämlich zeigt er relativ wenig Interesse an der antijüdischen, dann auch antisemitischen Ideologie und fokussiert sich, seinem Ansatz entsprechend, auf antijüdische Praktiken, denen konkrete Täter und Opfer, Situationen und Motive zugeordnet werden können. Gerade die Kategorie des "Motivs" ist, wie Bergmann weiß, nicht unproblematisch, da sie zur Rationalisierung neigt, weshalb er auch im Einklang mit der sozialpsychologischen Forschung von "affektiven Elementen" (92, siehe auch 95) spricht. Aber gerade weil er diesen affektiven Elementen nicht vertieft nachgeht, kann sich die Stärke des Buches, nicht nach Überzeugungen und psychischen Dispositionen, sondern nach den sozialen Bedingungen für den Ausbruch kollektiver Gewalt gegen Juden zu fragen, voll entfalten. Bergmann zeigt überzeugend, dass antijüdische Anschauungen nur eine dieser Bedingungen sind, dass es aber "nur einen losen Zusammenhang antisemitischer Einstellungen mit Gewaltaktionen" (748) gibt.
Bergmanns Erkenntnisse basieren in erster Linie auf einer Zusammenfassung der Forschungsliteratur, in geringerem Ausmaß werden auch Primärquellen miteinbezogen. Die originäre Leistung des Buches besteht also weniger in der Interpretation von Quellen als vielmehr darin, den bestehenden Forschungsstand zu bündeln und damit auch für jene leicht verfügbar zu machen, die keine Experten für die jeweilige Region oder den jeweiligen Zeitabschnitt sind. Insgesamt also bietet Bergmanns lesenswertes Werk einen breiten Überblick sowohl über die Geschichte antijüdischer Gewalt in Europa als auch über die diesbezügliche Forschung. Darüber hinaus präsentiert er neue theoretische Ansätze zur Analyse antijüdischer Tumulte, Exzesse und Pogrome.
Anmerkung:
[1] Die wichtigsten Überblickswerke sind bisher die Sammelbände von Jonathan Dekel-Chen u.a. (eds.): Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History, Indiana 2011 (für Osteuropa) und Werner Bergmann / Christhard Hoffmann / Helmut Walser Smith (eds.): Exclusionary Violence: Antisemitic Riots in Modern German History, Ann Arbor 2002 (für Deutschland).
Werner Bergmann: Tumulte - Excesse - Pogrome. Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789-1900 (= Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart; Bd. 4), Göttingen: Wallstein 2020, 845 S., ISBN 978-3-8353-3645-2, EUR 46,00
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