Dem bedeutenden Beethovenforscher und Pianisten William Kinderman verdanken wir eine Menge an hervorragenden Beethoven-Büchern, -Editionen und -Einspielungen. Wenn hier nun eine weitere kleine Monografie erscheint, dann legitimert sich diese durch den Fokus auf einen besonderen thematischen Aspekt: die politische Dimension von Beethovens Musik. Das ist nicht ganz neu, wird hier aber in äußerster Konzentration und Konsequenz verfolgt. Da Beethoven bekanntlich kein offen politisch agierender Mensch gewesen ist, muss dieser Aspekt in einer anderen Dimension seines Handelns aufgesucht werden. Kinderman findet ihn, mit einem Wort des von Beethoven verehrten Schiller, in der unterstellten Absicht des Komponisten, mit seiner Musik "Symbole des Vortrefflichen" herzustellen. Dieser Begriff begegnet so häufig und so gleichmäßig über das ganze Buch verteilt (9, 16, 89, 103, 116, 132, 162, 178, 183, 200), dass man in ihm geradezu den roten Faden des Argumentationsgangs und damit auch die Hauptthese des Buchs sehen kann. Und kaum weniger häufig wird Beethovens Briefäußerung von 1814 zitiert, ihm sei im Vergleich zu allen Monarchien der Welt "das geistige Reich das liebste" (17). Für Kinderman, das ist die Pointe des Buchs, liegt im Idealismus dieser Symbolik "ein latenter politischer Wert" (162) - latent zwar und nur indirekt, aber darum doch keineswegs unwirksam oder bedeutungslos.
In acht Kapiteln werden daher jene Werke besonders einlässlich besprochen, an denen sich die ästhetische Symbolik des Vortrefflichen gut als eine zugleich politische darlegen lässt: so die "Sinfonia eroica", in deren Finale etwa der als Variationen-Thema verwendete Kontretanz utopisch auf "erodierende Klassenunterschiede" verweist (73, 97), ferner die Oper "Fidelio" mit ihrem Freiheits-Pathos und die Neunte Sinfonie mit ihrem klaren Schiller-Bezug. Darüber hinaus werden aber auch viele weitere Kompositionen (Klaviersonaten, Streichquartette), bei denen das alles längst nicht so offensichtlich ist, aus diesem Blickwinkel interpretiert. Manchmal kommt das nicht ohne Spitzfindigkeit aus, wenn etwa steigende Quarten "den Widerstand gegen Konflikte" thematisieren und somit "stellvertretend für die Verwirklichung einer erneuerten Gemeinschaft" stehen sollen (30). Jedenfalls aber zielt Beethoven, darin ist dem Verfasser zuzustimmen, keineswegs nur auf "absolute Musik" (118). Das Indirekt-Symbolische ist es also, das als politischer Subtext von Beethovens Musik zu entschlüsseln ist. Dieser ist für Kinderman immer widerständig und subversiv. Folgerichtig werden im Gegenzug einige ganz offen politische Gelegenheitskompositionen Beethovens aus der Kongresszeit kritisch als opportunistischer "Kitsch" zurückgewiesen (157-164).
Neben Schiller taucht noch ein anderer zeitgenössischer Gewährsmann auf: Für die Deutung schon einiger früher Klaviersonaten wird das Humorkonzept Jean Pauls in Anspruch genommen (50ff.). Das kann man trotz des offenbaren Anachronismus (publiziert wurde die Theorie erstmals 1804) durchaus machen, solange man dieses Konzept nur als eine Ästhetik witziger Kontraste auffasst. Jean Paul selbst geht allerdings sehr viel weiter und verweist implizit auf die Erbmasse der idealistischen Ästhetik, wenn in seiner berühmten Formulierung der Humor als das "umgekehrte Erhabene" dem Subjekt seine innere moralische Größe nicht etwa im Widerstand gegen das furchterregend Große, sondern vielmehr angesichts des unzulänglichen Kleinen bewusst macht - beides bei Kant wie bei Schiller wie bei Jean Paul stets im Fernblick auf die jeglicher Darstellung unerreichbaren Vernunft-Ideen. Wahrscheinlich lässt sich daher der zutiefst metaphysische Hintergrund des Humor-Konzepts statt für die Frühzeit viel fruchtbarer für die Auseinandersetzung mit dem irritierenden Kontrastreichtum der letzten Werke Beethovens zum Sprechen bringen, wie denn auch die aufmerksamen Zeitgenossen erst den späten und nicht schon den jungen Beethoven als "unseren musikalischen Jean Paul" zu bezeichnen pflegten. Für die "Diabelli"-Variationen, zu deren Genese Kinderman schon vor Jahrzehnten ein Standardwerk vorgelegt hat, überzeugt das daher auch viel mehr. Sie erfahren in den einschlägigen Abschnitten des Buchs (167ff.) eine grandiose Würdigung.
Schließlich dient auch noch die Analogie zu Schellings nach-Kantischer Identitätsphilosophie dazu, den idealistischen Gehalt von Beethovens Musik zu profilieren. Argumentiert wird mit Beethovens angeblicher Wortprägung "Kunstvereinigung" (177f.), die allerdings in Wirklichkeit eine Formel seiner Kommentatoren, nicht etwa seine eigene ist. Beethoven selbst erhofft sich in dem berühmten Brief vom Juli 1819 die Synthese seiner Musik mit geeigneten Modellen alter Meister (Händel, Bach), also - wie immer bei ihm orthografisch sorglos und syntaktisch eigenwillig formuliert - ihre "mit der bessern Kunst vereinigung". Immerhin trifft aber das von der Sekundärliteratur erfundene (oder fehlgelesene) Wort "Kunstvereinigung" beim Blick auf die späte Bachrezeption doch ziemlich genau den gemeinten Sachverhalt, wenn auch nur in einem technischen und nicht philosophischen Sinne. Kinderman sieht darin mit Recht die Utopie einer friedlichen ästhetischen Koexistenz von Altem und Neuem, Erhabenheit und Simplizität.
Zwischen ästhetischer Vollkommenheit und politisch-humanistischer Utopie lässt sich, so Kinderman, bei Beethoven also so etwas wie ein Gleichheitszeichen anbringen. Mit einer gewissen Vorsicht jedoch: "Wesentlich ist, dass dieser symbolische künstlerische Inhalt wahrgenommen wird, ohne ihn zu verflachen oder zu reduzieren" (159). Kindermans umsichtig aus der Musik heraus entwickeltes Beethovenbild ist in diesem Sinne denn auch keineswegs platt, sondern immer um solide analytische Begründung bemüht. Ein wenig sorglos ist leider die ungeprüfte Weitergabe alter Anekdoten: so die Behauptung, Beethoven habe den ursprünglichen langsamen Satz der Waldstein-Sonate nur widerstrebend als "Andante favori" bezeichnet (117; das liest sich bei Czerny, den der Autor sonst stets als verlässlichen Zeugen einstuft, ganz anders), so auch Beethovens angebliche Briefäußerung, seine Sonate op. 106 werde man erst "in 50 Jahren spielen" (166; in Wirklichkeit eine spätere Behauptung seines Verlegers Artaria), oder die Vermutung, Beethoven habe gegen Diabellis Walzerthema "ursprünglich einen gewissen Widerwillen" gehegt (169), wofür es aber keinen Beleg gibt. Das ist bei einem Buch solchen Anspruchs ein wenig schade und hätte sich mit Gewinn einer kritischen Neubewertung angeboten.
Wenn es also dem Komponisten Beethoven um die Schaffung von ästhetischen "Symbolen des Vortrefflichen" geht, so liegt genau darin für Kinderman der politisch zu verstehende Gehalt seiner Musik. Dieser politisch-revolutionäre Beethoven wird mit sympathischem Engagement zur Diskussion gestellt. Und manche Formulierung des Autors zeigt sehr deutlich, dass der Nachdruck auf Beethovens brennender Aktualität sich der Entstehung des Buchs in der Endphase von Trumps Amerika verdankt: "Heute, zwei Jahrhunderte nach Beethoven, sind Größenwahn und die Trompeten-und-Trommel-Prahlerei à la Pizarro weithin im Vormarsch. [...] Wie soll man reagieren, wenn ein gewaltiger Demagoge unter dem Applaus seines Klüngels einen ebenso gewaltigen Turm aus Lügen errichtet?" (33).
William Kinderman: Beethoven. Ein politischer Künstler in revolutionären Zeiten, Wien: Molden Verlag 2020, 224 S., 5 Farb-, 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-222-15052-4, EUR 27,00
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