sehepunkte 21 (2021), Nr. 4

Andrea Martini: Dopo Mussolini

Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien war ein ebenso radikaler wie vielgestaltiger Prozess, der anderen Gesetzen folgte als die sogenannte Vergangenheitsbewältigung im besetzten Deutschland. Das lag zum einen an der territorialen Fragmentierung des Landes und der daraus resultierenden Tatsache, dass mehrere Akteure mit ganz unterschiedlichen Interessen die Regie bei der politischen Säuberung beanspruchten: die königliche Regierung, die alliierte Besatzungsmacht, die italienische Widerstandsbewegung und - nicht zu vergessen - Mussolini, der sich an den Verrätern aus den eigenen Reihen rächen wollte und deshalb viele von ihnen nicht nur abservierte, sondern sogar hinrichten ließ. Die Diversität und Radikalität hatten zum anderen mit den Umständen zu tun, unter denen Ahndung und Säuberung begannen, nämlich mitten im Krieg und mitten in einem erbittert geführten Bürgerkrieg, der viele Schauplätze hatte - die Abrechnung der Resistenza, der Besatzungsmacht und der königlichen Regierung mit ihren faschistischen Feinden war einer davon.

Die italienische Forschung hat dieses Phänomen lange ignoriert, zugleich aber ohne nähere Prüfung das Schlagwort von der "epurazione mancata", der ausgebliebenen oder versäumten Säuberung, ersonnen - ein Schlagwort für den politischen Nahkampf, das an den Verrat an den Idealen der Resistenza erinnerte und als Waffe diente, um das Italien der Gegenwart mit seinen Defiziten und Ambivalenzen zu diskreditieren.

Diese Zeiten sind vorbei. Jüngere Forschergenerationen haben sich aus diesen politischen Konditionierungen gelöst und die schon immer unfruchtbare Frage nach Erfolg oder Misserfolg der Säuberung hinter sich gelassen. Sie schauen genauer hin und bringen dabei das gesamte Instrumentarium einer hochgradig vernetzten internationalen Zeitgeschichtsforschung zum Einsatz. Besonderes Interesse haben in diesem Zusammenhang die Gerichte gefunden, wobei hier namentlich bei den Volkstribunalen, den Militärgerichten und den ordentlichen Schwurgerichten bis hinauf zu den Kassationshöfen immer noch beträchtliche Wissenslücken bestehen.

Anders liegt der Fall bei den außerordentlichen Schwurgerichten, die seit einigen Jahren im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit stehen und die auch Andrea Martini, ein in Padua lehrender Historiker, in seiner breit recherchierten und methodisch anspruchsvollen Studie in den Blick genommen hat. Die außerordentlichen Schwurgerichte wurden im April 1945 geschaffen, um die "Verbrechen der Kollaboration mit den Deutschen" zu ahnden, und trugen letztlich die Hauptlast der justiziellen Abrechnung. Sie sollten nur sechs Monate bestehen, blieben dann aber wegen des enormen Arbeitsanfalls in Gestalt der "Sezioni speciali" der ordentlichen Schwurgerichte bis Ende 1947 im Amt. Das Außerordentliche an ihnen war vor allem die anfängliche Dominanz der Resistenza in diesen Sondergerichten, das unerhörte Tempo der Urteilsfindung und die Anwendung eines speziellen Paragrafen, der das Gericht der Einzelfallprüfung enthob; wer in der Republik von Salò ein bestimmtes Amt bekleidet hatte, galt automatisch als strafwürdiger Kollaborateur und musste mit schweren Sanktionen rechnen.

Außerordentliche Schwurgerichte gab es in über 50 Provinzen. Knapp die Hälfte davon und das ordentliche Schwurgericht in Rom bilden den Untersuchungsgegenstand von Martinis Studie, der dabei aber auch die sich wandelnden politischen Rahmenbedingungen nicht aus dem Auge verliert und so dem Leser einen ebenso differenzierten wie erschöpfenden Überblick zu bieten vermag. Drei Aspekte sind es vor allem, die Martinis Buch auszeichnen. Der Autor verfügt, erstens, über verlässliche Zahlen zur Dimension der Arbeit der Sondergerichte: In nahezu 6.000 Prozessen standen rund 9.200 Angeklagte vor ihren Schranken. Mehr als die Hälfte davon wurde verurteilt - über 330 zum Tode und Hunderte zu lebenslänglicher Haft. In vielen Fällen hatten diese Strafen freilich keinen Bestand, die von der Resistenza kaum beeinflussten Revisionsinstanzen gewährten großzügige Nachlässe oder hoben sie ganz auf.

An den von Martini präsentierten Zahlen lässt sich auch ablesen, dass die Ahndungsintensität der Sondergerichte in den ersten Monaten nach der Befreiung besonders hoch war; von Mai bis Oktober kamen nur 30 Prozent der Angeklagten mit einem Freispruch davon, danach stieg diese Quote auf fast zwei Drittel an. Den Ausschlag dafür gaben Beharrungskräfte in der Richterschaft, die sich mit den Sondergerichten nie anfreunden konnten, vor allem aber die politischen Parteien, die bereits 1945 die Weichen auf Rückzug aus der Säuberung stellten, weil sie dem von Weltkrieg und Bürgerkrieg zermürbten Land nach der "wilden Säuberung" mit ihren vielen "kurzen Prozessen" (man schätzt die Zahl der Opfer auf 12.000 bis 15.000) eine Unzahl langer Gerichtsverfahren ersparen wollten. Die vom kommunistischen Justizminister Palmiro Togliatti initiierte mehr als großzügige Amnestie vom Juni 1946 war der Schlusspunkt dieser Entwicklung, nicht der Ausgangspunkt, wie Martini überzeugend herausarbeiten kann.

Hinzu kommt, zweitens, die "dichte Beschreibung" zahlreicher Verfahren, die in nicht wenigen Fällen Tragödien von Aischylos glichen, wie ein zeitgenössischer Beobachter meinte. Der Leser spürt hier förmlich, wie aufgeheizt die Atmosphäre in den ersten Monaten nach der Befreiung war, in welch hohem Maße die Urteile von öffentlichen Abrechnungserwartungen bestimmt waren und wie schwer es den Gerichten fiel, wenigstens den Anschein von Recht und Gesetz zu wahren. Die Energien des Bürgerkriegs hatten sich mit der Befreiung ja nicht erschöpft, die tödliche Konfrontation zwischen Faschisten und Antifaschisten ging vor den Sondergerichten noch geraume Zeit weiter: Richter, Verteidiger und Zeugen mussten bei einem falschen Wort um ihr Leben fürchten, ganz zu schweigen davon, dass das Publikum milde Urteile mitunter auf seine Weise korrigierte: durch Lynchjustiz.

Zu den besonderen Vorzügen des Buches zählen, drittens, die bedenkenswerten Reflexionen des Autors über die langfristigen Folgen der Tätigkeit der außerordentlichen Schwurgerichte. Hatten die Verfahren und die Strafen eine kathartische bzw. pädagogische Funktion und trugen sie zur Immunisierung der Gesellschaft gegen weitere faschistische Experimente bei? Gab es wegen der vielen Verstöße gegen rechtsstaatliche Gepflogenheiten gegenteilige Effekte namentlich bei den Ex-Faschisten, die sich ohnehin als Opfer einer verfehlten Säuberung stilisierten? Und wie gingen die linken Abrechnungsaktivisten mit den Enttäuschungen um, die ihnen der Abbruch und insbesondere die Amnestie von Togliatti bescherten?

Andrea Martini diskutiert diese Fragen, legt sich aber mit seinen Antworten wohlweislich nicht fest. Expliziter wird er nur, wenn es um die Faschismusbilder geht, die sich in den Urteilen spiegelten. Sie zeigten - so detailreich und realitätsgerecht wie möglich - vor allem die Faschisten vor Ort, sprich die Spitzel, die Denunzianten, die Schergen der Todesschwadronen und die Waffenbrüder der Deutschen, die aus der näheren Umgebung stammten. Die Faschismusbilder wiesen aber auch, wie man jetzt genauer weiß, zahlreiche Blindstellen auf: Die Kriegsverbrechen in den besetzten Gebieten blieben ebenso ausgespart wie die Beteiligung der Faschisten am Holocaust. Überhaupt erschienen die Faschisten in den Urteilen allzu oft nur als Kollaborateure, ja als Werkzeuge der deutschen Besatzungsmacht und nicht als Täter sui generis, die das Land seit 1919 mit ihren kriminellen Methoden drangsalierten.

Die außerordentlichen Schwurgerichte lieferten auch einseitige, in mancher Hinsicht sogar harmlose Faschismusbilder, die langfristig das kollektive Gedächtnis prägten. Beim Versuch einer Bilanzierung ihrer historischen Bedeutung dürfen diese Defizite nicht verschwiegen, sie sollten aber auch nicht überbewertet werden. Was vor allem zählt, ist ihre prominente Rolle im Abrechnungsprozess und ihr am Ende wohl doch heilsamer Versuch, dem außer Rand und Band geratenen Rache- und Vergeltungsfuror Genüge zu tun und ihm zugleich die Spitze zu nehmen - auch Martinis vortreffliche Studie lässt daran keinen Zweifel.

Rezension über:

Andrea Martini: Dopo Mussolini. I processi ai fascisti e ai collaborazionisti (1944-1953) (= I libri di Viella; 313), Roma: Viella 2020, 368 S., ISBN 978-88-331-3096-5 , EUR 29,00

Rezension von:
Hans Woller
München
Empfohlene Zitierweise:
Hans Woller: Rezension von: Andrea Martini: Dopo Mussolini. I processi ai fascisti e ai collaborazionisti (1944-1953), Roma: Viella 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 4 [15.04.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/04/35543.html


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