Die erstaunliche Vitalität der Forschung zum frühneuzeitlichen Reich seit den 1960er Jahren hat eine fast unüberblickbare Literatur erzeugt sowie in letzter Zeit auch große Gesamtdarstellungen in deutscher und englischer Sprache. Dieser Forschungsboom hat mehrere Ursachen. Grundlegend war eine veränderte Einstellung zum Alten Reich in der Bundesrepublik ein gutes Jahrzehnt nach der 'deutschen Katastrophe'. Als die Neuzeithistoriker sich anschickten, das Kaiserreich im Rahmen des vermeintlichen 'deutschen Sonderwegs' schwarz zu malen, wuchs die Tendenz, das ehemals verschmähte Heilige Römische Reich positiv zu bewerten. Die Abkehr von der Nation ging einher mit einer Zuwendung zu Europa and zum Alten Reich als Grundlage einer europäischen Friedensordnung. Dazu kamen neue wissenschaftliche Großprojekte wie die Herausgabe der Acta Pacis Westphalicae durch Max Braubach und Konrad Repgen oder später die Erschließung der Reichskammergerichts- und Reichshofratsakten. Wichtig war auch drittens die ungeheure Expansion der Universitäten und damit die Zunahme der Zahl der Promotionen, Habilitationen und Sonderforschungsbereiche, die auch der Frühneuzeitforschung zugutegekommen sind.
Matthias Schnettger bietet in den ersten sechs Kapiteln seines ausgewogenen Überblicks zunächst eine Reichsgeschichte von 1500 bis 1806, die auch bemüht ist, den Erträgen der jüngeren Sozial- und Kulturgeschichte Rechnung zu tragen. Die Einteilung der Kapitel reflektiert die herkömmliche Periodisierung, wie sie vom Gebhardt und anderen Handbüchern bekannt ist. Die Reichsreform um 1500 schuf den Rahmen für die Konsolidierung in der Reformationszeit und dann die daraus entstehenden Probleme zwischen Augsburger Religionsfrieden und Dreißigjährigem Krieg. Der Westfälische Friede stabilisierte und justierte die Reichsverfassung und führte zum Wiederaufstieg des Kaisertums, aber auch zu den 'Entfremdungen' vom Reich - nicht nur wichtiger Reichsstände wie Kurbrandenburg, sondern auch der Habsburger selbst, woraufhin alte Konflikte wiederauflebten. Das Kaisertum Karls VII. markierte den Beginn der 'Spätphase' des Alten Reichs. Danach sieht Schnettger das Reich zunehmend durch den österreichisch-preußischen Dualismus gelähmt. Das Ende begann in der Zeit der Koalitionskriege, nicht zuletzt infolge der Aushandlung des Separatfriedens von Basel zwischen Frankreich und Preußen 1795 und des Prinzips der territorialen Entschädigung vornehmlich der größeren Reichsstände für ihre linksrheinischen Verluste an Frankreich durch die Säkularisation der geistlichen Fürstentümer. Als auch Napoleon mit der Vergrößerung der Mittelstaaten und der Schaffung des Rheinbunds in dieses Spiel einstieg, hatte das Reich keine Zukunft mehr.
Origineller sind die folgenden Kapitel, in denen besondere Themen vertieft werden. Unter dem Titel 'Wie hielt das Reich zusammen?', werden zentrale Institutionen des Reichs vorgestellt. Reichskammergericht und Reichshofrat nehmen die erste Stelle ein, beide als friedenswahrende Höchstgerichte, letzteres auch als kaiserliches Regierungsinstrument. Beide Gerichte wirkten auch in die Regionen hinein, wo sie teils parallel zu den Reichskreisen, teils in Zusammenarbeit mit ihnen, Einfluss auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung ausüben konnten. Zwei weitere Aspekte werden ebenfalls diskutiert. Dass das Reich eine Lehnsordnung war, ist wohl keine neue Erkenntnis, und dass diese im 18. Jahrhundert nicht mehr sonderlich gut funktionierte bzw. von verschiedenen Reichsständen zunehmend abgelehnt wurde, war schon u.a. durch die wichtigen Aufsätze von Hans Erich Feine (1931) und Jean-François Noël (1969) bekannt. Ob die Schwächung der Reichslehnsordnung wirklich ein Zeichen für das Absterben des Reichs war, ist allerdings fraglich. Andere europäische Länder haben die Schwächung einer älteren Lehnsordnung überlebt. Das Reichssystem entwickelte sich auf anderen Ebenen (Reichstag, Gerichte, Kreise) weiter. Eine immer wichtigere Klammer für das Reich war die gedruckte Kommunikation, die mit den Reichsgesetzen, den Reformationsflugschriften und Flugblättern ihren Anfang nahm und im 'tintenklecksenden Säkulum' (Schiller) ihren Höhepunkt fand.
Eine Übersicht über die Glieder des Reichs schildert die Eigenschaften der Territorialstaaten, der Reichskirche, der Reichsritterschaft und der Reichsstädte. Hier stellt Schnettger das neue Bild einer diversen Vielfalt, von gesunder Konkurrenz und Leistungen nicht nur im kulturellen Bereich vor. Der Abschnitt über die Judenschaften im Reich ist besonders wertvoll. Alle Versuche einer kaiserlichen Judenpolitik in der Frühen Neuzeit scheiterten ebenso wie Versuche der Juden selbst, reichsweite Verbände zu schaffen. Andererseits gab die kaiserliche Schutzherrschaft den Juden in Reichsstädten und Kleinterritorien Rückhalt. Trotz Luther und anderer Judengegner wurde die jüdische Minderheit zwar beargwöhnt, aber doch weithin geduldet, nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Interessen der territorialen und städtischen Obrigkeiten.
Bei den 'Peripherien des Reichs' geht es zunächst um eine Grenzbesichtigung, um die peripheren Reichskreise und dann um die Frage, wer wirklich zum Reich gehörte, wer quasi-außerhalb lag, wer rechtliche Exemtionen genoss, welche Reichsteile über zwei Jahrhunderte französisch wurden. Der zweite Teil des Kapitels behandelt Reichsitalien, einen Forschungsschwerpunkt des Autors. Wie schon Johann Jacob Moser feststellte, gehörte Reichsitalien zweifellos zum Reichslehnssystem. Es hatte aber mit dem deutschen Reich nichts zu tun. Während Moser jedoch beteuerte, er könne die Verfassung Reichsitaliens nicht erklären, bietet Schnettger eine präzise Darstellung der italienischen Reichslehnsordnung und ihrer Glieder sowie einen tiefen Einblick in die Zuständigkeit des Reichshofrats in Italien (wie schon S. 222 ff. im Abschnitt über 'Die Reichsgerichte in Aktion').
Zum Schluss wird das 'Nachdenken über das Reich' kurz beleuchtet. Nach einem Abschnitt über die Reichspublizistik, kommen 'Zeitgenössische Außenwahrnehmungen' mit z.B. Louis Maimbourg und Jean de Heiss für Frankreich, nicht aber Voltaire oder Montesquieu in den Blick. Mit nur neun Seiten geht es auch im Abschnitt über 'Das Reich und die historische Forschung' zügig voran. Hier werden die preußisch-deutschen Meistererzählung sowie Meilensteine in der Forschung seit 1945 erläutert. Der Streit um Georg Schmidts These über das Reich als 'komplementärer Reichs-Staat der deutschen Nation' mit den Zusätzen von Johannes Burkhardt wird knapp referiert. Schnettger bemüht sich hier um Neutralität und schreitet schnell weiter zu der neueren kulturgeschichtlichen Sicht auf das Reich und die (Wieder)Entdeckung der Symbolsprache des Zeremoniells. Spannend findet er offensichtlich auch die neueren französischen raumsoziologischen Untersuchungen und das von Christophe Duhamelle und Falk Bretschneider entworfene Konzept der 'Fraktalität' des Alten Reichs. Eine eingehende Beschäftigung mit diesem Konzept würde vielleicht am Ende eine Ähnlichkeit mit dem 'Komplementären Reichs-Staat' feststellen müssen.
Matthias Schnettger hat eine gelungene Analyse der gegenwärtigen Sicht auf das Alte Reich vorgelegt. Wer in Zukunft Orientierung über den neuesten Stand der Forschung zum Alten Reich sucht, sollte mit diesem Buch anfangen. Es ist eine beachtliche Leistung, die hoch anzuerkennen ist.
Matthias Schnettger: Kaiser und Reich. Eine Verfassungsgeschichte (1500-1806), Stuttgart: W. Kohlhammer 2020, 406 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-031350-7, EUR 29,00
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