Studien zur Wissenschaftsgeschichte Zentral- beziehungsweise Ostmitteleuropas haben seit geraumer Zeit Konjunktur, dennoch bestehen hinsichtlich der mobilen und vielsprachigen ukrainischen community erhebliche Desiderate - besonders außerhalb der jeweiligen Quellensprachen. Nadia Zavorotna versucht mit ihrer Arbeit zu ukrainischen Wissenschaftler*innen in der ČSR, vor allem 1921-1938 in Prag als Emigrationszentrum und Poděbrady als Standort der Ukrainischen Ökonomischen Akademie, eine wesentliche Lücke zu schließen. Die rund 20 000 bis 25 000 ukrainischen Emigrant*innen, die in den frühen 1920er Jahren in die ČSR kamen (23), ihre florierende kulturelle und wissenschaftliche Selbstorganisation mit staatlicher Unterstützung, sind tatsächlich zu wenig erforscht. Zavorotna Arbeit, die auf ukrainischen, tschechischen und slowakischen Studien und einigen Primärquellen fußt, liefert eine englischsprachige Synthese, die aufgrund ihrer breiten Rezipierbarkeit äußerst zeitgemäß und willkommen ist.
Zavorotna hat die Arbeit in neun Kapitel strukturiert, darunter eine einleitende Skizze zur tschechoslowakischen Einwanderungspolitik und zu Aspekten ukrainischer Emigration, vier Kapitel zu den größten ukrainischen Institutionen (Ukrainische Freie Universität Prag, Ukrainische Ökonomische Akademie Poděbrady, Höheres Pädagogisches Institut Prag, Studio für Ukrainische Bildhauerkunst), drei weitere Kapitel zu kleineren Vereinen und Instituten (wissenschaftliche und professionelle Organisationen, Bibliotheken, Archive und Museen und ukrainischsprachige wissenschaftliche Publikationslandschaft) und ein abschließendes Kapitel zur "Ukrainian Scholarly Community and the Outside World". Zavorotna stellt dabei die wesentlichen Akteure heraus, über die häufig mehrere Institutionen miteinander verbunden waren, und verweist auf die Wechselwirkungen der Einrichtungen untereinander. Sie reflektiert die Haltung des Staates und insbesondere Tomaš G. Masaryks (170-173) vor dem Hintergrund einer schlüssigen Zusammenfassung der Ausgangssituation der ukrainischen Bevölkerung nach 1918, die der Analyse voransteht.
Zu Zavorotnas Verdiensten gehört ohne Zweifel, ein Nachschlage- und Übersichtswerk für die ukrainischen Aktivitäten in vornehmlich zwei Städten der ČSR geschaffen zu haben. Institutionen sowie Biografien mancher ukrainischer und nicht-ukrainischer Akteure werden erstmals ausführlicher in englischer Sprache thematisiert, historisch situiert und in ihrer Interaktion zusammengeführt. Die Verfasserin hat mitunter schwer zugängliche Quellen zusammengetragen und bezieht als eine von wenigen englischsprachigen Arbeiten sowohl tschechische als auch ukrainische Quellen ein. Wertvoll sind auch die Hinweise auf die staatlichen und privaten Geldflüsse. Tabellen mit Angaben zu fachlichen Aktivitäten an Universitäten sowie auch auf Kongressen beteiligter Wissenschaftler*innen unterstützten die Darstellung und ließen sich auch für potenzielle Vergleichsstudien nutzen.
Trotz dieser Verdienste bleibt das Buch hinter den geweckten Erwartungen zurück. Eingangs erwähnt Zavorotna Materialien aus tschechischen, kanadischen und ukrainischen Archiven als relevant für ihre Arbeit (8), bezieht sich im Anmerkungsapparat dann allerdings nur auf die tschechischen und kanadischen Archivalien, wobei sie auch dort offenbar nur selektiv vorgehen konnte. Gerade weil sich im Zentralen Staatsarchiv der höheren Regierungs- und Verwaltungsorgane der Ukraine (Central'nyj Deržavnyj Archiv Vyščych Orhaniv Vlady ta Upravlinnja Ukrajiny, CDAVO) ein Großteil des Archivs der Ukrainischen Freien Universität befindet (Fond 3859), einschließlich ihrer Gründungsdokumente und Fakultätsprotokolle, bleibt unverständlich, warum diese gut zugänglichen Materialien nicht herangezogen oder zumindest diese Leerstellen nicht etwas deutlicher gemacht wurden. Die Bestände zum "Ukrainischen Museum in Prag" im Zentrales Staatsarchiv der gesellschaftlichen Vereinigungen (Central'nyj Deržavnyj Archiv Hromads'kych Objedan', CDAHO) in Kiev (Fond 269) finden keine Erwähnung. Vielfach hält sich Zavorotna zu eng an publizierte Berichte der jeweiligen Institutionen und die Darstellung des Zeitzeugen Symon Narižnyj, die zwar durchaus wertvoll sind, aber kritischer hätten eingeordnet werden müssen.
Mit knapp 180 Seiten Fließtext ist das Werk relativ kurz, wodurch diverse Aspekte von Interesse allenfalls angedeutet werden. So verweist Zavorotna darauf, wie relevant die Kontinuität ukrainischer Forschung durch die Institutionen in der ČSR auch mit Blick auf die Nach-kriegszeit gewesen sei (4). Über diese kürzeren Hinweise geht die Verfasserin selten hinaus, es fehlt die Einbettung in größere Kontexte der Vor- und Nachkriegszeit. Zwar finden sich Hinweise auf die ukrainische Wissenschaftsorganisation der Habsburgermonarchie (31, 40-42, 77, 79), doch Aussagen wie "For those from the Austro-Hungarian empire, the ex-perience they gained as members of the Shevchenko Scientific Society was invaluable" (104) bleiben oftmals Postulate. Zeitliche wie räumliche Brückenfunktionen der Prager Institutionen (175) lassen sich nur schwer diskutieren, ohne beispielsweise das Verhältnis zum Ukrainischen Wissenschaftlichen Institut Berlin (44) näher in den Blick zu nehmen. Transnationale Interaktionen in der Wissenschaft werden in Kapitel 9 angerissen, doch auf weniger als 20 Seiten kann keiner der sechs Unterpunkte wirklich vertieft werden. Wünschenswert wäre nicht zuletzt gewesen, den Zusammenhang zur Wissenschaft in der Podkarpatská Rus herzustellen.
Hinzu kommt, dass Zavorotna die kritischen Tendenzen der jüngeren Wissenschaftsgeschichte hinsichtlich des Zusammenhangs von Wissenschaften und Nationalisierungsprozessen nicht einbezieht. Dies zeigt sich im Narrativ des Buches sowie am Umgang mit Einzelfällen, zum Beispiel am Beispiel Borys Matjušenkos, Professor für Sozialmedizin an der Ukrainischen Freien Universität (UFU). Zavorotna schreibt zu dessen Vortrag auf dem Ukrainischen Wissenschaftlichen Kongress in Prag 1927: "Matiushenko focused on the health of Ukrainians and the impact of the war and revolution on it" (67). Die Quelle spricht an dieser Stelle unter anderem von "qualitativen Verlusten - Verschlechterung der biologischen Qualität mit Folge der Kontraselektion und de[m] Einfluss von Krieg und Revolution (Tod Besserer, unzureichende Vermehrung der Intelligenz usw.)", das heißt von klar eugenischen Inhalten. Zavorotna konzentriert sich zwar eher auf die Selbstorganisation als auf wissenschaftliche Inhalte und kann selbstredend die noch immer defizitäre Aufarbeitung ukrainischer eugenischer Diskurse nicht "nebenbei" erledigen, doch spätestens an dieser Stelle wären eine detailgetreuere Wiedergabe der Quelle und eine kritische Einordnung nötig gewesen. Das Thema kann schlecht als Marginalie abgetan werden, standen Sozial- und Rassenhygiene beziehungsweise Eugenik doch auf dem Lehrplan der UFU. Damit stellte die UFU im Europa der Zwischenkriegszeit keinen Sonderfall dar, vielmehr zeigt sich hier, dass die ukrainische community durch diese Institution an europäischen Wissenschaftsdiskursen partizipierte, was Zavorotna Argument der Brückenfunktion der UFU sogar stützt. Die wissenschaftlichen Inhalte, die das untersuchte Milieu produzierte, müssten in künftigen Forschungen jedoch in einer Weise problematisiert werden, wie dies schon für andere Länder und Sprachgruppen geleistet worden ist.
Nadia Zavorotna: Scholars in Exile. The Ukrainian Intellectual World in Interwar Czechoslovakia, Toronto: University of Toronto Press 2020, XVI + 260 S., ISBN 978-1-4875-0445-8, CAD 75,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.