In Deutschland hat Kandinsky die entscheidenden Jahre seines Lebens verbracht, hier hat er die abstrakte Kunst geschaffen und folglich die meiste Schelte und in seltenen Fällen auch Zustimmung erhalten. Beide Seiten beriefen sich häufig auf sein Russentum. Eine umfassende Forschungsarbeit hierzu fehlte aber bisher. Deshalb ist Sebastian Borkhardts systematische, präzise und kenntnisreiche Dissertation eine Pionierleistung.
Bisher kannte man meist schwach begründete Mutmaßungen über die Auswirkung von Kandinskys Russentum auf seine Kunst: aus Unkenntnis der Sprache, der Kultur, der Geschichte, der Politik oder aus Halbwissen nach übersetzter Literatur (Dostojewski). Die "russische Seele" und ähnliche Mystifizierungen dienten als Erklärungsersatz, besonders bei der tatsächlich schwierigen Frage nach dem Ursprung der abstrakten Malerei. Borkhardt hat hier vieles korrigieren, anderes vertiefen müssen; auch mit den Einseitigkeiten in der Rezeption von Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst hat er sich ausführlich auseinandergesetzt.
Außer dem Quellenmaterial hat er eine Fülle von Arbeiten zu angrenzenden Themen berücksichtigt: Die 50 Seiten Literaturverzeichnis beweisen zusätzlich, dass nichts und niemand vergessen wurde. Der Autor hat sich ausführlich mit zeitgenössischer und späterer Rezeption auseinandergesetzt und in jedem einzelnen Fall auch den Standpunkt der Akteure sowie deren eigene Wahrnehmung hinterfragt. Seine Systematik, Präzision und Gründlichkeit überzeugen: zum Beispiel die Unterscheidung zwischen künstlerischer, institutioneller und literarischer Rezeption. Auch der Widerstand von traditioneller, nationalistischer und rassistischer Seite wurde analysiert und erklärt. Der komplexe Inhalt ist insgesamt gut verständlich präsentiert.
Ein böswilliger Irrtum tauchte unerwartet bereits 1913 auf. Dem Russen Kandinsky wurde unterstellt, "mit talmudischer Spitzfindigkeit" in seinen Schriften zu beweisen, "daß der Geist, wenn er erst reif wird und in die Malerei fährt, nur derlei Zeug zu malen imstande sei." Nur ein Jude käme "auf die fixe Idee, Leinewände mit großen Farbenmassen sinnlos zu bestreichen (....)." Kandinsky "sollte lieber heute als morgen ausgewiesen werden" (258). Borkhardt setzt sich ausführlich mit diesem Thema auseinander; seine Interpretationen überzeugen.
Im selben Jahre 1913 wurde eine Protestaktion "Für Kandinsky" gegen allzu derbe Verbalinjurien organisiert: "Idiotismus (...) daß wir diesen Russen rasch und ohne Aufregung erledigen können" (30). Doch das Ziel dieser Aktion war nur, Kandinsky zu verteidigen, nicht die Argumente der Gegenseite zu beleuchten. Dies wurde von Borkhardt gründlich nachgeholt.
Der Münchener Kunsthistoriker Fritz Burger, einer der wenigen frühen Befürworter zeitgenössischer Kunst, nahm 1913 am Protest "Für Kandinsky" teil. In seinem viel gelesenen Buch, Cézanne und Hodler, bezeichnete er Kandinsky als den Repräsentanten eines "spirituellen Anarchismus". Ausführlich hat Borkhardt auf zwanzig - auch bebilderten - Seiten Burgers weitere Arbeiten, die er vor seinem Soldatentod 1916 verfasst hatte, analysiert. Er hat sie als Versuch einer Einbeziehung Kandinskys erkannt und auch den Zusammenhang mit dem Blauen Reiter herausgearbeitet: den "Fall des jungen künstlerischen Rußlands", das an der Seite Deutschlands für eine neue Menschheitskultur kämpfe. "Der Feuerzauber des Krieges zeichnet den blutigen weltgeschichtlichen Hintergrund für seine neue nationale Größe (...). Über den frischen Gräbern hinweg wird der deutsche Geist die versöhnenden Fäden selber ziehen" (72). Wer hier an Franz Marc denkt, der ebenfalls hoffnungsvoll in den Krieg zog und 1916 gefallen ist, wird nach Borkhardts Erörterung nicht nur Kandinsky, Marc und Burger besser verstehen, sondern auch mehr über den historischen Hintergrund jener Vorkriegszeit erfahren.
Von 1922 an folgten Verunglimpfungen, nicht nur durch Adolf Stein: "Ein Kunstbolschewist, der bekannte Kandinsky, der in Rußland keine Geschäfte machen kann, ist jetzt an eine öffentliche Anstalt in Weimar, die Kunstgewerbe betreibt, berufen worden, an das sogenannte Bauhaus. Dort mag er sich in bizarren Tapeten und Teppichen austoben" (290). Borkhardt verweist auf die Suggestivkraft des unscharfen Begriffs "Kunstbolschewist" und beleuchtet den historischen Zusammenhang überzeugend. Adolf Stein triumphierte schließlich 1935: "was ich mir vornahm, ist erfüllt", nämlich "die Sehnsucht nach einem freien, starken Deutschland wieder zu wecken" (230).
Zu einem starken Deutschland sollte auch eine starke, gesunde Kunst gehören. Und hier begegnet man dem seltsamsten Argument gegen Kandinskys Malerei: als unmännlich! Der Jugendstilkünstler Hans Christiansen bezeichnete 1925 Kandinskys abstrakte Werke als "krank" und "dekadent". Er sprach dem Maler sogar das vollgültige Mannestum ab, weil in seinen Bildern "das weiblich Qualitative, Schönheit, Gefühl, Seele" dominierten; deshalb finde er sein Publikum nur bei "sich verkehrt entwickelnden Geschlechtern". Christiansen ging noch weiter, obwohl er erstaunlicherweise Oskar Kokoschkas Malerei zur "gesunden Ausdruckskunst" zählte: "Je mehr wir uns (...) in unserer Kunst auf uns selbst besinnen, umso weniger werden wir in dem Kampfe, den die Kulturen der einzelnen Völker mit einander führen, ins Hintertreffen kommen. Was uns aber die Freunde Kandinskys als Kunst aufdrängen wollen, ist östlich orientiert, ist einfach Kunstbolschewismus" (233).
Weiter zeigt Borkhardt, wie Kandinskys Förderer unter zunehmendem politischen Druck "von rechts" lavieren mussten, um ihn zu schützen: durch Ausblendung, Verfremdung (im ursprünglichen Wortsinne) oder durch Integration. Manchmal blieb auch nichts weiter zu tun als zu trösten, wie ein Brief von Alois Schardt zeigt: "Ihre Aquarelle hängen in Halle noch in einem Raum zusammen (...) der Öffentlichkeit zugänglich". Borkhardt konnte jedoch ermitteln, dass es sich dabei um eine "Schreckenskammer" gehandelt hat (277).
Über die Ausstellung "Entartete Kunst" ist auf zehn Seiten viel Neues über Kandinskys dominante Präsenz zu erfahren.
Der Direktor des Museums Folkwang, Klaus Graf von Baudissin, hatte 1936 gewagt, Kandinskys Ölbild "Improvisation 28" von 1912 zu verkaufen: "Durch den Verkauf tritt keine Verarmung des Museums ein (...) Wir können es nicht Zufall heißen, daß ein Entwurzelter, ein seiner Nation entfremdeter, diesen Einfall startete, der hinausläuft auf ein allen Sinnen entkleidetes Spiel des sich absolut setzenden Intellekts, eines halbgebildeten, zuchtlosen und daher gegen das Leben gerichteten, selbstmörderischen Intellekts" (333). Borkhardts Recherche ergab, dass das Bild für die stattliche Summe von 9000 Reichsmark an die Galerie Ferdinand Möller verkauft worden war, im Auftrag von Solomon Guggenheim.
Erst nach Kriegsende, 1945, begann die "Wiedergutmachung" an Kandinsky, verlief aber ebenfalls nicht widerspruchslos. Deshalb wünscht man sich vom Autor eine Fortsetzung.
Ein winziger Kritikpunkt: Slavisten sehen die (einzig logische) "wissenschaftliche Transkription" russischer Wörter natürlich gern. Doch andere Leser könnten sich an der ungewohnten Schreibweise stören (Kandinskij). Schließlich hatte ja Kandinsky, wie auch andere Emigranten, selbst seinen Namen dem Deutschen phonetisch angepasst. Und diese Schreibweise hat sich in der deutschsprachigen Literatur durchgesetzt. Das Buch ist ja nicht allein für Fachleute gedacht. Es ist so reich an neuen Erkenntnissen, dass man ihm einen weiteren Leserkreis wünscht. Da mein eigenes Ziel seit Jahrzehnten war, die neu zugänglichen russischen Quellen in Deutschland bekannt zu machen, kann ich die außerordentliche Leistung von Sebastian Borkhardt nur bewundern.
Sebastian Borkhardt: "Der Russe Kandinsky". Zur Bedeutung der russischen Herkunft Vasilij Kandinskijs für seine Rezeption in Deutschland, 1912-1945 (= Das östliche Europa: Kunst- und Kulturgeschichte; Bd. 12), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 448 S., ISBN 978-3-412-52075-5, EUR 60,00
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