Seit einiger Zeit lässt sich eine gewisse Konjunktur für Biografien über Großindustrielle und Unternehmer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beobachten. Eine Erklärung dafür könnte lauten, dass es sich um klingende Namen handelt, die man mit großen, ja, Weltkonzernen verbindet. Dazu zählen Röchling, Bosch und natürlich auch Siemens als ein heute milliardenschweres und börsennotiertes Unternehmen. Für diese "Global Player" wurde während der Industriellen Revolution durch den Erfindungsreichtum und Geschäftssinn der Gründer der Grundstein für eine bis heute andauernde Expansion gelegt. [1]
Mit seiner Biografie bedient der ausgewiesene Technikhistoriker Wolfgang König zum einen diese Konjunktur. Zum anderen fügt er quasi den dritten Band der Familiengeschichte der Gebrüder Siemens hinzu, die im 19. Jahrhundert als Ingenieure, Maschinenbauer, Elektrotechniker und Unternehmer auf vielen Feldern und in vielen Ländern äußerst erfolgreich tätig waren. [2] Schon 2013 hat Martin Lutz mit seinem Buch über Carl von Siemens mit dem Untertitel "Leben zwischen Familie und Weltfirma" einen Akzent gesetzt, der sich durch alle drei Bücher zieht. Denn so unterschiedlich die Brüder in Persönlichkeit und Interesse waren, letztlich blieben sie auch während familiärer Spannungen aufeinander bezogen, halfen und stützten sich gegenseitig bei der Fortentwicklung ihrer Ideen. Auf diese Weise machten sie den Namen Siemens weltweit bekannt, vor allem auch dadurch, dass sie sich auf einzelne Märkte in einer globaler werdenden Welt spezialisierten. Werner hatte dabei die Rolle als frühes Familienoberhaupt und Nestor in der Berliner Zentrale, Carl, der vor allem im Zarenreich unternehmerisch wirkte, changierte als der jüngste der drei eher zwischen den Brüdern. Wilhelm, der sich nach seiner Übersiedlung in den späten 1840er Jahren in William umbenannte, spezialisierte sich auf das Land, dessen boomende Industrie in diesem Zeitalter "asymmetrischer Effizienzsteigerung" (Jürgen Osterhammel) [3] als Vorbild diente: auf Großbritannien.
Das Geleitwort des CEO von Siemens in Großbritannien zeigt, worum es dem Konzern mit dieser Biografie als Teil einer Trilogie geht: Um die Lebensgeschichten dreier Pioniere, die aufgrund ihres Erfindungsreichtums auch heute Lösungen für Klimawandel und Industrie 4.0 anböten. Glücklicherweise springt König nicht über dieses hingehaltene Stöckchen des reinen Gegenwartsbezugs. Er zeichnet in seinem Buch vielmehr ein Bild einer sowohl streitbaren als auch fruchtbare Allianzen und Beziehungen knüpfenden Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Auf diese Weise wurde William in Großbritannien zu einer gesellschaftlichen Größe, für dessen Beisetzung in der Westminster Abbey sich 1883 sogar der Prince of Wales persönlich, wenn auch erfolglos, einsetzte. Rund 150 Nachrufe und ein Gedenkfenster in dieser Abbey zeigen aber, dass Siemens und seine Erfindungen höchste Anerkennung genossen. Die frühe Waise aus kleinen Verhältnissen, aufgewachsen als siebtes von 14 Kindern einer Gutspächterfamilie nahe Lübeck, hatte es dank seines Ideenreichtums zu Ansehen und Vermögen gebracht. Dass die Eltern trotz schwieriger finanzieller Verhältnisse für eine vor allem auf naturwissenschaftlichem Gebiet gute Bildung sorgten, bildete neben der produktiven Konkurrenz der Brüder die Grundlage für das Unternehmen Siemens.
Für seine Biografie greift König auf zahlreiche Briefe zurück, die sich vor allem im Unternehmensarchiv des Siemens Historical Institute in Berlin befinden. Daneben kann er die edierten Publikationen von William Siemens verwenden, die sich als beeindruckendes Schriftenverzeichnis im Anhang befinden. Es handelt sich um rund 120 Werke in deutscher und englischer Sprache, die den breiten Interessenshorizont von Siemens abbilden. Darin geht es um elektrische Telegraphie, die Regenerativ-Dampfmaschine, Schmelzöfen, die elektrische Leitungsfähigkeit von Guttapercha, um Verfahren der Stahlherstellung und die elektrische Beleuchtung - um nur einige Themen zu nennen. Dieses Quellenkonvolut, auf das sich König neben Archiven vor allem in Deutschland und Großbritannien stützt, führt allerdings auch dazu, dass vor allem der Erfinder und Maschinenbauingenieur sichtbar wird. Andere Aufzeichnungen sind rar, so dass seine Persönlichkeit auch anhand der Zuschreibungen aus seiner Umgebung rekonstruiert werden muss.
Insgesamt schreibt König eine Aufsteigergeschichte. Der 19jährige Wilhelm wurde nach kurzer Ausbildung und noch kürzerem Studium 1843 von seinem Bruder Werner nach Großbritannien geschickt, um ein von diesem erfundenes Vergoldungsverfahren erfolgreich zu vermarkten. Es folgten immer wieder Rückschläge, auch Hunger war ihm bekannt. Nachdem Werners Zeigertelegrafen der kommerzielle Durchbruch in Preußen gelungen war, befand sich der nunmehr in Großbritannien niedergelassene Bruder verstärkt im Dienst der Telegraphen-Bauanstalt Siemens & Halske. Während Werner sich aber immer stärker auf elektrotechnische Fragestellungen spezialisierte, sah sich der Jüngere vor allem als Maschinenbauer. Dennoch half er seinem Bruder, wo er konnte, vor allem als Siemens & Halske in das risikoreiche Seekabelgeschäft einstieg. In London führte er die Geschäfte für die dort gegründete und für das gesamte Überseegeschäft zuständige Firma Siemens Brothers. Allerdings gelang es ihm nicht, seine Brüder von einem risikoreicheren Einsatz zu überzeugen, um die Firma zum weltweit führenden Telegrafieunternehmen zu machen. Die Beschreibung des Kampfes um Positionen auf dem sich entwickelnden Weltmarkt der Telegrafie sowie Triumphe und Rückschläge bei der Verlegung von Überseekabeln gehört zu den längeren und spannenderen Abschnitten der Biografie (56-79). Zudem gelingt es König, dem interessierten Laien technische Details, auch mit Hilfe von zeitgenössischen Patentzeichnungen, näher zu bringen. Auf diese Weise kann er in einem Kapitel in kluger Zusammenfassung die "Cluster technischer Innovationen" von William Siemens zusammenfassen (146-173) und man erfährt, "dass der Siemens-Martin-Prozess für etwa ein Jahrhundert zum weltweit wichtigsten Verfahren der Stahlerzeugung wurde" (166).
Spannend ist es auch zu lesen, wie William, seit 1858 englischer Staatsbürger und seit 1859 mit einer Britin verheiratet, enge Netzwerke in die dortige Gesellschaft knüpfte. Seine Sprachbegabung erleichterte ihm die Kommunikation. So wurde er Mitglied in vielen technisch-wissenschaftlichen Vereinen, die zum einen dem fachlichen Austausch dienten, gleichzeitig auch ein Zentrum gesellschaftlichen Lebens waren. Um in einige dieser "Societies" aufgenommen zu werden, bedurfte es der Fürsprache verdienter Vereinsmitglieder, was ohne die Anerkennung des bisher Geleisteten durch die Fachwelt nicht möglich gewesen wäre. William war unter anderem Mitglied in der traditionsreichen Institution of Civil Engineers und der prestigeträchtigen Royal Society. In vielen dieser Vereinigungen wirkte er im Vorstand oder sogar als Präsident. Als Netzwerker schuf er sich einflussreiche Freunde unter den führenden britischen Ingenieuren und Erfindern, deren Fürsprache er wiederum für die eigenen Entwicklungen oder für Siemens Brothers nutzen konnte (88-117).
Leider erfährt man aufgrund der Quellenlage nur wenig über Williams Gedanken zur sozialen Frage in Großbritannien, die spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum öffentlichen Thema aufstieg. Gegenüber seinen Arbeitern soll er als gütiger Firmenpatriarch aufgetreten sein, der auf Sonntagsarbeit nach Möglichkeit verzichtete. Mehr liest man über Williams Ablehnung gegenüber Preußen, seine liberalen, in der englischen Gesellschaft geschulten Ansichten und seine Kontakte zu anderen prominenten Emigranten, die nach 1848/49 in London eintrafen. Seine Haltung verhehlte er auch nicht gegenüber seinem im preußischen Abgeordnetenhaus sitzenden Bruder Werner, der sich ebenfalls als Liberaler verstand. Beide einte auch, dass sie sich nicht in erster Linie als Unternehmer sahen. Die Firmen sollten Kapital für neue Projekte generieren, die wiederum mittels Firmen oder Aktiengesellschaften zu Geld gemacht werden sollten. Das funktionierte häufig auch nicht, ohne dass es dem Einfallsreichtum Einhalt gebot.
Insgesamt zeigt König im vorliegenden Buch, inwieweit sich Menschen im 19. Jahrhundert aus ärmlichen Verhältnissen durch wachen Geist und Erfindungsgabe, aber auch durch kluge Allianzen ins gehobene Bürgertum oder sogar in den Adelsstand emporarbeiten konnten. Ein größeres Verdienst aber liegt darin, dass er William Siemens nicht nur als Schachfigur des älteren Bruders skizziert, sondern als eigene Persönlichkeit, die aufgrund ihrer Fähigkeiten einen großen Beitrag zur Entwicklung der Firma Siemens leistete und von der englischen Gesellschaft nicht nur akzeptiert, sondern adoptiert wurde.
Anmerkungen:
[1] Vgl. als jüngere Beispiele Wolfgang von Hippel: Hermann Röchling 1872-1955. Ein deutscher Großindustrieller zwischen Wirtschaft und Politik. Facetten eines Lebens in bewegter Zeit, Göttingen 2018; sowie Peter Theiner: Robert Bosch. Unternehmer im Zeitalter der Extreme. Eine Biografie, München 2017.
[2] Vgl. dazu Johannes Christian Marx: Rezension von: Johannes Bähr: Werner von Siemens 1816-1892. Eine Biografie, München 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 4 [15.04.2017], URL: http://www.sehepunkte.de/2017/04/28945.html (31.05.2021) sowie Martin Lutz: Carl von Siemens 1829-1906. Ein Leben zwischen Familie und Weltfirma, München 2013.
[3] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 1286.
Wolfgang König: Sir William Siemens. 1823-1883, München: C.H.Beck 2020, 270 S., 23 Farb-, 86 s/w-Abb., 2 Kt., ISBN 978-3-406-75133-2, EUR 29,95
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.