Selbstzeugnisse italienischer Soldaten aus dem Krieg der "Achse" sind rar; man kann sie an den Fingern einer Hand abzählen. Da gibt es die apologetischen Erinnerungen von Giovanni Messe, Mussolinis Lieblingsgeneral bis zu seinem Seitenwechsel im Sommer 1943, über seine Zeit als Kommandierender General eines italienischen Armeekorps an der Ostfront 1941/42, die schon früh ins Deutsche übersetzt worden sind [1]. Und da gibt es die Memoiren von Mario Rigoni Stern, die vor mehr als fünfzig Jahren unter dem Titel "Alpini im russischen Schnee" in deutscher Sprache erschienen sind. Dabei handelt es sich um die Erinnerungen eines Unteroffiziers der italienischen Gebirgsjäger, der an der Ostfront mit der Wehrmacht gegen die Rote Armee gekämpft und den mörderischen Rückzug vom Don überlebt hatte - anders als Tausende seiner Kameraden, die in der eisigen Steppe im Süden der Sowjetunion den Tod fanden. Ergänzt wurde dieses Buch drei Jahre vor Rigoni Sterns Tod durch Reflexionen seines Lebens, die - überschrieben "Geblendet und betrogen" - auch eine Übersetzung ins Deutsche gefunden haben [2]. Unmittelbarere Zugänge zur italienischen Sicht der faschistisch-nationalsozialistischen Waffenbrüderschaft lässt schon die Sprachbarriere kaum zu. Umso bemerkenswerter sind die Tagebuchaufzeichnungen von Josef (Giuseppe) Anselmi, die Thomas Reichlin gleichsam im Selbstverlag herausgebracht hat. Ein Soldat in italienischer Uniform, der mehr vom europäischen Herrschaftsbereich der faschistischen Kriegsallianz gesehen hat als die meisten seiner Kameraden, und der seine Eindrücke von Tag zu Tag auf Deutsch zu Papier brachte, weil er des Italienischen nur beschränkt mächtig war - wie kann das sein?
Man würde vielleicht an einen Soldaten aus Südtirol denken, der den Weg in Mussolinis Heer gefunden hat, aber weit gefehlt: Giuseppe Anselmi, der sich selbst Josef nannte, wurde 1921 in Silenen im schweizerischen Kanton Uri geboren. Von seinem Vater, der mit 16 Jahren aus der Lombardei in die Schweiz kam, um dort Arbeit zu suchen, erbte er die italienische Staatsbürgerschaft. Da seine Mutter eine Urnerin war, wurde zu Hause nur Deutsch gesprochen, so dass der junge Giuseppe oder Josef nur wenig Italienisch verstand und sich in der Sprache seines Vaters noch schlechter verständlich machen konnte. Die häuslichen Verhältnisse waren beengt, viel Zeit für die Schule blieb nicht, und Josef musste zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, den hauptsächlich sein Vater als Bau- und Tunnelarbeiter im Gebirge verdiente. Im Februar 1942 erreichte Josef Anselmi der Gestellungsbefehl, dem er sich vergleichsweise problemlos hätte entziehen können, da die Schweiz Kriegsdienstverweigerer nicht nach Italien auslieferte. Warum er der Einberufung trotzdem folgte, lässt sich seinen Tagebuchaufzeichnungen nicht genau entnehmen. Abenteuerlust spielte sicher eine Rolle, auch die Neugier auf Italien und die Familie seines Vaters in der Lombardei und die Hoffnung auf sozialen Aufstieg bei der Armee, blieb ihm doch sonst nur die Aussicht, wie sein Vater als Mineur beim Tunnelbau zu arbeiten, wo Leib und Leben ebenso bedroht schienen wie beim Militär. Auch die Sorge um seine Eltern spielte eine Rolle; sollte ihm im Krieg etwas zustoßen, konnten sie immerhin mit einer kleinen Rente rechnen.
Mit der Eisenbahnfahrt von Wassen nach Mailand am 17. März 1942 beginnt das Tagebuch Josef Anselmis, mit seiner erfolgreichen Flucht in die Schweiz am 6. Dezember 1943 endet es. Während das handschriftliche Original für 1942 erhalten ist, sind die ursprünglichen Aufzeichnungen für 1943 verschollen. Verloren ist das Tagebuch freilich nicht, fertigte Anselmi doch - wann ist nicht bekannt - eine maschinenschriftliche Abschrift an, die er um einen Prolog und einen Epilog ergänzte; beides ist in der hier angezeigten Publikation nicht abgedruckt. Dass die maschinenschriftliche Fassung von den ursprünglichen Tagebucheinträgen abweicht und inhaltlich bearbeitet wurde, ergibt ein Vergleich der Aufzeichnungen aus dem Jahr 1942; der Herausgeber präsentiert an Stellen, die ihm besonders wichtig scheinen, beide Versionen. Für 1943 lassen sich dagegen die nachträglichen Veränderungen nicht nachvollziehen. Hinter dem Kriegstagebuch für 1943 steht also ein kleines Fragezeichen, dafür eröffnet die Existenz beider Fassungen für 1942 die Möglichkeit, danach zu fragen, welche Stellen Anselmi in späteren Jahren verändert hat, wo ihm dies nötig schien und welche Intention dahinter aufscheint.
Anselmi stammte aus einfachen Verhältnissen und wurde einfacher Soldat bei der Infanterie. Diese Perspektive dominiert den ersten Teil seiner Aufzeichnungen, in denen Hunger, Langeweile, Drill (lange Märsche als Vorgeschmack auf den Einsatz an der Ostfront) und eine zuweilen groteske Bürokratie Leitmotive sind; dass hier der neugierige, manchmal auch verständnislose Blick des Fremden auf eine unbekannte Heimat zum Tragen kommt, sei nur kurz angemerkt.
Anselmis Muttersprache entschied über seinen Einsatz. Nach einer Sprachprüfung in Rom wurde er Dolmetscher bei einem Eisenbahntransportkommando, das Kampftruppen des italienischen Heeres bei ihrer Verlegung an die Front oder beim Rücktransport nach Italien begleitete. Als Dolmetscher war er ein entscheidender Mann bei den Verhandlungen mit deutschen Transportleitstellen und Bahnhofskommandos auf dem Weg durch ganz Ost- und Südeuropa; dabei wuchsen ihm gleichermaßen Freiheiten wie Verantwortung zu. Zwischen Juni und November 1942 führte ihn sein Weg mit Soldaten der 8. italienischen Armee dreimal an die Ostfront - über Österreich, das Reichsgebiet, das Protektorat Böhmen und Mähren, das Generalgouvernement in die Ukraine und nach Russland und zurück. Von Januar bis August 1943 begleitete er drei Transporte nach Griechenland, die durch Slowenien, Kroatien, Serbien, das Kosovo und Nordmazedonien rollten. Seinerzeit waren derartige Reisen selbst im Kriegszustand ungewöhnlich, und auch wenn Anselmi zumeist nur wenig Zeit hatte, sich die Städte anzusehen, wo seine Transporte Station machten, sammelte er doch in vergleichsweise kurzer Zeit eine Fülle von Eindrücken.
Dabei fällt auf, dass er sich über Politik, Kriegsverlauf und militärische Lage kaum (und ziemlich spät) Gedanken machte. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Transportzüge einen Mikrokosmos bildeten, den kaum Informationen erreichten, wenn man vom zufälligen Glück einer Zeitung oder von Gerüchten am Bahnhof absah. "Bin neugierig, was [es] Neues gibt", notierte er am 22. Juli 1942. "Denn in Russland erfährt man nichts vom Krieg [...]. Je näher man der Front zu kommt, desto weniger vernimmt man vom Krieg." Dennoch waren Politik und Ideologie ständig präsent, was sich auch insbesondere in der propagandistisch gefärbten Art und Weise widerspiegelte, wie Anselmi Land und Leute wahrnahm. Zwei Zitate illustrieren diese giftige Mischung aus Rassedünkel und Antibolschewismus. Am 1. November 1942 schrieb er über seine Eindrücke aus Weißrussland: "Dort waren Häuser wie Ställe, also besser gesagt ein Haufen Dreck, mit einem lochartigen Eingang, wo gleichzeitig auch Hühner und Schweine herauskamen mit den Leuten, ja auch anderes Vieh. Von Fenstern oder so etwas war keine Spur zu sehen und die Leute sah man meistens zerlumpt herumliegen, auch an Werktagen, nicht einmal das gute Land war bebaut. [...] Mir war, als hätte ich hinter den Mond geschaut." Am 11. November 1942 beschrieb er einen Eisenbahntransport mit gefangenen Rotarmisten, "hütete" sich aber, diesen "zu nahe zu kommen". Als spärliche Verpflegung gereicht wurde, "waren die meisten wie Tiere, die den andern das Brot noch aus den Händen rissen und im geschlossenen Wagen taten sie wie Schweine. Da konnte man sehen, was uns diese gebracht hätten, was für eine Zivilisation."
Auch die Versklavung der jüdischen Bevölkerung entging Anselmi nicht, der umso mehr jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sah, je weiter sein Zug nach Osten fuhr. Viel Mitgefühl brachte er ihnen nicht entgegen: Am 14. August 1942 schrieb er über einen Aufenthalt in Brest-Litowsk: "Wir schauten dann ein bisschen den Judenmädchen zu, wie sie arbeiten und 2 Uhr nachmittags fuhren wir wieder weiter." In der bearbeiteten maschinenschriftlichen Fassung liest sich diese Szene anders; sie bedurfte wohl der nachträglichen Rechtfertigung, Einordnung und apologetischen Schuldzuweisung: "Hier waren wieder die ausgehungerten Juden, Frauen und Mädchen im Einsatz, die mich selber verbarmten, aber den Deutschen gegenüber durfte man hier kein Mitleid zeigen."
Anselmis Aufzeichnungen halten noch einige andere interessante Passagen parat, so über die Auflösung der italienischen Streitkräfte um den 8. September 1943 und seine anschließende abenteuerliche Flucht in die Schweiz. Ansonsten hat das Buch weniger zu bieten, als die Quelle verdient, und man merkt ihm an, dass engagierte Amateure dahinterstehen. Die historische Einordung bleibt rudimentär, Kommentare fehlen völlig, auch ein Register sucht man vergeblich; immerhin gibt es ein Itinerar, so dass sich die Reiserouten gut nachvollziehen lassen. Das Tagebuch ist nichtsdestotrotz lesenswert.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Giovanni Messe: Der Krieg im Osten, Zürich 1948.
[2] Vgl. Mario Rigoni Stern: Alpini im russischen Schnee, Heidelberg 1954; Mario Rigoni Stern: Geblendet und betrogen. Eine italienische Jugend, Berlin 2005.
Thomas Reichlin (Hg.): Die Kriegstagebücher 1942 und 1943 von Josef (Giuseppe) Anselmi, Schwyz: Triner Media + Print 2020, 190 S., ISBN 978-3-033-08443-8
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